Schwerpunkt 23. März 2022, von Felix Reich

Recht bekommt am Ende allein das Opfer

Hiob

Die kunstvoll konzipierte Erzählung verhandelt die zeitlose Frage, warum Gott die Menschen leiden lässt. Sie präsentiert viele Erklärungen und bleibt die Antwort trotzdem schuldig.

Das Hiobbuch erzählt von einem reichen, frommen Mann, der alles verliert. Sein Besitz ist dahin, er wird krank, verliert seine Familie. Weil er auch trotz allem an Gott festhält, wird er am Ende belohnt und erhält seinen Besitz zurück.

So weit, so banal. Zur grossen Literatur machen das Hiobbuch, das über mehrere Jahrhunderte hinweg entstanden ist, seine Form und die verschiedenen Perspektiven auf die Kernerzählung. Im Zentrum der dichterischen Reflexionen steht die Frage, warum unschuldige Menschen leiden müssen. Zudem kratzt die Erzählung am Bild des gerechten Gottes, das die Propheten zeichnen.

Das angekratzte Gottesbild

Der Prolog spielt im Himmel. Der Satan, der als Figur aus einer niedrigen Charge im göttlichen Hofstaat vorgestellt wird, kommt gerade von seiner Erkundungstour auf der Erde zurück. Gott fragt ihn, ob er auch Hiob gesehen habe, auf den er besonders stolz ist, weil er «Gott fürchtet und das Böse meidet, schuldlos und aufrecht ist» (Hiob 1,8). Der Satan versucht, Gottes Misstrauen zu wecken. Kein Wunder, sei Hiob fromm, es gehe ihm schliesslich gut mit seinen sieben Söhnen und drei Töchtern, den 7000 Schafen und 3000 Kamelen, all seinen Rindern und Ese­linnen.

«Doch strecke deine Hand aus und taste seine ganze Habe an – wenn er dich dann nicht ins Angesicht lästert!» (Hiob 1,11).

Der Satan stellt Hiob unter den Ver­dacht, dass seine Frömmigkeit dem materiellen Glück geschuldet ist und nicht einer inneren Glaubenshaltung. Diesen Zweifel will Gott zerstreuen, indem er seinen Musterschüler einem grausamen Test unterzieht. Solange Satan Hiob am Leben lässt, darf er mit ihm anstellen, was er will.

Egal, ob Gott oder der Satan richtigliegt, der Verlierer ihres Wettbewerbs steht von Anfang an fest: Hiob. Und so beginnen die Hiobs­botschaften, die ihn ereilen: Die Tiere werden geraubt, die Knechte erschlagen, seine Söhne und Töchter unter den Trümmern ihres Hau­ses begraben, das ein Sturmwind eingerissen hat. 

Es scheint, als ob der grosse Weltenlauf halt seine Opfer fordert. Eine zynische und bis heute leider allzu vertraute Argumentation.

Noch hat Gott gute Chancen, seine Wette zu gewinnen. Hiob lässt sich nicht dazu hinreissen, ihn zu verfluchen. In seiner Trauer wahrt er die Contenance: «Nackt bin ich gekommen aus dem Leib meiner Mutter, und nackt gehe ich wie­der dahin. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen» (Hiob 1,21). Nun bekommt Hiob Besuch von Elifas, Bildad und Zofar. Ihnen klagt er sein Leid und verliert die Fassung. Er verflucht den Tag seiner Geburt. Die Freunde tadeln Hiob für seinen Frevel und erklären ihm, warum das Leid die verdiente Strafe für seine Sünden seien.

Vom Dulder zum Rebellen

Die selbstgerechten Reden der Freunde und die Antworten Hiobs sind kunstvoll in einen lyrischen Dialog verwoben. Später tritt mit Elihu ein vierter Analyst auf. Hiob wird zum Anwalt seiner selbst, ob-wohl er weiss, dass Gott sein Urteil bereits gefällt hat: «Schuldlos bin ich, er aber hat mich schuldig gesprochen» (Hiob 9,21).

Der theologische Disput gipfelt im Auftritt des angeklagten Richters selbst. Auf einen Prozess lässt Gott sich freilich nicht ein. In rhe­torischen Fragen doziert er vielmehr von der Komplexität der Schöpfungsordnung. Es scheint, als ob der grosse Weltenlauf halt seine Opfer fordert. Eine zynische und bis heute leider allzu vertraute Argumentation.

Das mächtige Ausweichmanöver verfehlt seine Wirkung jedenfalls nicht. Hiob, der zuvor vom Dulder zum Rebellen wurde, knickt ein. Nachdem Gott der Bitte, sich dem Leidenden zu offenbaren, nachgegeben hat, gibt sich Hiob geschlagen und «tröstet sich im Staub und in der Asche» (Hiob 42,6).

Das Hiobbuch setzt eine bemerkenswerte Pointe: Gott gibt Hiob recht, dem Opfer, das klagt und flucht.

Im Licht des Prologs irritiert der Auftritt Gottes. Er, der sich als allwissender, viel beschäftigter Lenker des Kosmos inszeniert, liess sich in Wahrheit vom Satan zu einem abgründigen Test hinreissen. Und obwohl Gott die Bühne betritt, beantwortet er die Frage nach dem Ursprung der Tragödie, um die sich die Erzählung dreht, nicht. Wie der Prolog die Erklärungsversuche der Freunde widerlegt, «sortiert er auch die Gottesrede als mögliche Antwort nach dem Grund von Hiobs Leiden aus», wie der Theologe Konrad Schmid in seinem Aufsatz über die «Theologie und Theologiekritik im Hiobbuch» festhält.

Die Pointe der Geschichte

Auch der Prolog verdunkelt mehr, als er erhellt. Der Blick in den Himmel wird in einer konstruierten Unmittelbarkeit beschrieben. Eine realistische These, die das Leid in der Welt erklären könnte, will die Szene of­fenbar nicht sein.

Ein Echo auf die Märchenprosa des Beginns ist der Epilog. Hiob besitzt nun 14'000 Schafe, freut sich an seinen Kindern und Enkeln und stirbt mit 140 Jahren «alt und lebenssatt» (Hiob 42,17). Als Happy End taugt der märchenhafte Schluss nicht. Die Frage, die es aufwirft, lässt das Hiobbuch offen. Aber es setzt eine bemerkenswerte Pointe: Gott gibt Hiob recht, dem Opfer, das klagt und flucht. Und zürnt den Freunden: «Weil ihr nicht die Wahrheit über mich gesprochen habt wie mein Diener Hiob» (Hiob 42,8).

Wenn die Geschichte eine Moral hat, dann vielleicht diese: Das Leid hat keine Moral. Gott mag unberechenbar, unverfügbar sein, doch er steht an der Seite der Opfer. Am Karfreitag wird er selbst zum Opfer, als er in Christus am Kreuz den Foltertod stirbt, im ohnmächtigen Versuch, die Gewaltspirale, in der die Menschen gefangen sind, zu durchbrechen.