Schwerpunkt 23. März 2022, von Christa Amstutz Gafner, Constanze Broelemann

«Im Meer des Leidens finden sich Inseln des Glücks»

Hiob

Ob das Leiden einen Sinn hat, kann der Seelsorger Simon Peng-Keller nicht beantworten. Aber er hat schon oft miterlebt, wie Menschen in ihren dunkelsten Stunden Beistand erfahren.

Sprechen wir zuerst vom Unsinn des Leidens. Gibt es Leiden, das Sie einfach nur sinnlos finden?

Simon Peng-Keller: Ja, es gibt furchtbare Einzelschicksale und auch kollektives Leid, die mich tieftraurig und zornig machen. Was zurzeit etwa in der Ukraine passiert, dieses immense von Menschen verursachte Leid, ist schwer auszuhalten. Und ich kann ihm tatsächlich keinerlei Sinn abgewinnen.

Wie gehen Sie mit Gefühlen der Ohnmacht um?

Ich gehe einerseits ins Gebet und verbinde mich damit innerlich mit den Menschen, die Leidvolles durchleben, und segne sie. Und andererseits suche ich nach Möglichkeiten, etwas zur Verminderung des Leidens beizutragen.

Was tun Sie als Seelsorger, wenn Sie jemanden in der dunkelsten Nacht des Leidens antreffen?

Man sollte zunächst den Fehler der Freunde Hiobs vermeiden, das Leid zu relativieren und zu erklären. Hilfreich ist meist, präsent zu sein, dem Schmerz nicht auszuweichen. Das Wertvollste, was Seelsorgende, aber auch jeder und jede von uns zu leisten vermag, ist mitaushalten. Und manchmal können wir auch zur Klage ermutigen.

Simon Peng-Keller, 52

Simon Peng-Keller, 52

Der Bündner hat in Freiburg und Luzern katholische Theologie studiert. Seit 2015 lehrt er Spiritual Care an der Universität Zürich. Von 2016 bis 2020 war er Seelsorger im Kompetenzzentrum Palliative Care des Universi­tätsspitals Zürich. Neben der akademischen Tätigkeit wirkt Peng-Keller als Exerzitienbegleiter unter anderem im Lassalle-Haus in Bad Schönbrunn.

Foto: Simon Brüderli

Inwiefern?

Indem wir darauf hinweisen, dass das Klagen ein sehr wertvoller Teil der jüdisch-christlichen Tradition ist und es dafür auch Vorlagen gibt: das Buch Hiob und die Klagepsalmen. Liest man sie, erkennt man vielleicht: Ich bin nicht allein, es ging auch anderen Menschen so.

Soll man mit Betroffenen auch über einen möglichen Sinn ihres Leidens sprechen?

Wir Menschen halten es schwer aus, dass etwas widersinnig ist, wir sind sehr sinnbedürftig. Ich würde mit Leidenden nur über den Sinn von Leiden sprechen, wenn sie das von sich aus wollen. Und ich selbst würde die Sinnfrage für sie nicht beantworten. Letztlich gibt es meines Erachtens keine gute theoretische Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Leid. Es gibt praktische Antworten, etwa mit Blick auf die Zukunft, wenn man sich fragt: Wie geht mein Leben weiter, was ist jetzt meine Aufgabe?

Und doch hört man von Menschen, die etwa einer Krankheit eine Art Sinn abgewinnen konnten.

Ja, natürlich. Es gibt Studien, die zeigen, dass sich bei einer schweren Krankheit die Werte in Richtung Selbsttranszendenz verschieben. Bei einigen Menschen führt die Konfrontation mit Leiden und Tod zu einer Verdichtung und Vertiefung des Lebens. Sie erzählen dann, dass trotz schwerer Krankheit etwas möglich wurde, was sie vorher nicht leben konnten. Und in Grenzsituationen, die mit grossem Leid verbunden sind, können sich paradoxerweise Erfahrungen intensiven Glücks einstellen, etwa in Nahtoderfahrungen. Im Meer des Leidens finden sich manchmal auch Inseln des Glücks.

Bei Nahtoderfahrungen, heisst es, würden Glückshormone ausgeschüttet. Ist also alles nur eine Frage der Chemie?

Diese reduktionistischen Erklärungen sind unbefriedigend, weil sie die Erfahrungsinhalte, den Horizont, den sie eröffnen, ausser Acht lassen. Es ist ähnlich, wie wenn man Träume auf ihre physiologische Funktion reduzieren würde. Der inhaltliche Reichtum bleibt dabei auf der Strecke. Das Sinnstiftende ist, dass uns beim Träumen teilweise wichtige Inhalte vermittelt werden. Das Gleiche gilt auch für visionäres Erleben in Todesnähe.

Man kann nicht alles spezialisierten Berufsleuten überlassen. Es braucht Menschen, die für kleine Dienste abrufbar sind oder die einfach da sind, die mein Leiden aushalten, geduldig sind, wenn ich selber ungeduldig mit mir bin.
Simon Peng-Keller, Seelsorger

Körperlicher Schmerz kann gelindert werden. Warum entscheiden sich Menschen trotzdem dafür, ihrem Leiden ein Ende zu setzen?

Oft ist es die Angst vor Ohnmacht und das Gefühl, das Leben werde sinnlos, wenn sich die Handlungsmöglichkeiten einschränken. Studien belegen, dass aus dem Gefühl von Sinnlosigkeit oft suizidale Gedanken entstehen. Es ist wichtig, diese anzusprechen und ernst zu nehmen sowie auf Unterstützungsmöglichkeiten hinzuweisen und solche nach Möglichkeit anzubieten.

Was braucht es ausser professio­neller Begleitung sonst noch?

Sorgende Gemeinschaften, das Bewusstsein, dass alle etwas zum gemeinschaftlichen Wohl beitragen können. Man kann nicht alles spezialisierten Berufsleuten überlassen. Es braucht Menschen, die für kleine Dienste abrufbar sind oder die einfach da sind, die mein Leiden aushalten, geduldig sind, wenn ich selber ungeduldig mit mir bin.

Manchmal ist man in der Begleitung von Leidenden oder Trauernden aber unsicher und fragt sich: Habe ich das Richtige gemacht?

Wir sind den Umgang mit Leid, mit Trauer nicht mehr so gewohnt, was Unsicherheit und manchmal problematischen Aktionismus erzeugt. Neulich sprach ich mit einer Frau, deren Mann kurz zuvor gestorben war. Sie hatten zusammen in einem Pflegeheim gelebt. Nur kurze Zeit nach dem Tod meinte das Pflegeteam, die Frau sei depressiv und brauche Medikamente. Sie wollte das nicht, sie wollte einfach trauern, sie wehrte sich gegen eine Pathologisierung ihrer Trauer. Man weiss aus der Trauerforschung, dass es oft ein Jahr oder viel länger dauert, bis jemand nach dem Verlust eines geliebten Menschen wieder Tritt fassen kann. Die Trauer auszuhalten, ohne etwas dagegen zu unternehmen, ist nicht einfach. 

Man soll sich hineinversetzen können in den Leidensprozess Jesu, sich darin wiederfinden, erfahren, dass man nicht allein ist. Das ist tröstlich und oft auch kathartisch.
Simon Peng-Keller, Seelsorger

So ergeht es auch den drei Freunden, die Hiob besuchen.

Genau. Zuerst machen es die Freunde richtig. Sie sitzen sieben Tage lang schweigend bei ihm. Dann werden sie geschwätzig. Durch seine Ermutigung zum Klagen und Anklagen ist das Buch immer noch aktuell. Gott führt Hiob schliesslich mit seiner Rede in eine neue Verbundenheit mit der Schöpfung hinein, in eine Welt, die viel grösser ist als die kleine Welt des Menschen.

Es ist Passionszeit. Kann der Leidensweg Jesu für leidende Menschen ein Trost sein, vielleicht sogar einen Sinn aufscheinen lassen?

Wie jede gute Geschichte enthält die Passionsgeschichte ein Identifikationsangebot. Wenn ich sie lese oder etwa die Matthäuspassion von Bach höre, werde ich hineingenommen in das Leiden und trete so auch in Kontakt mit meinem eigenen Leiden und mit Gottes Leiden an seiner Schöpfung. Die Passionsgeschichte ist sehr ausführlich erzählt, sie ist länger als die Ostergeschichte. Man soll sich hineinversetzen können in den Leidensprozess Jesu, sich darin wiederfinden, erfahren, dass man nicht allein ist. Das ist tröstlich und oft auch kathartisch.

Erlebt die Osterbotschaft anders, wer sich zuvor mit der Passionsgeschichte auseinandergesetzt hat?

Lässt man sich auf die Passions­geschichte ein, wirkt die Auferstehungsbotschaft glaubhafter. Man erlebt und fühlt mit, dass das Leiden nicht das letzte Wort hat.