Schwerpunkt 23. März 2022, von Katharina Kilchenmann

Warum die falschen Analysen eine Hilfe sind

Hiob

Vier Freunde belehren den kranken Hiob. Zwar stel­len sich alle Analysen als falsch heraus, dennoch sind sie Hiob eine Hilfe, sagt Psychoanalytiker Daniel Barth.

Die Besserwisser

Die drei Freunde Elifas, Bildad und Zo­far wollen mit Hiob den Schmerz aushalten und den Leidenden trösten. Sie schweigen lange, hören sich die Klage des Kranken an und reagieren mit Belehrungen. Die Freunde suchen nach einem Sinn hinter dem Unglück und nehmen Hiob in die Verantwortung. Später kommt mit Elihu ein vierter Interpret des Leidens dazu. Zwar stel­len sich alle Analysen als falsch heraus, dennoch sind sie Hiob eine Hilfe, sagt Psychoanalytiker Daniel Barth.

Hiob hat Schmerzen. Geschwüre plagen ihn. Er leidet unter seiner Trauer, der Angst und Wut. Alles, was ihm lieb und teuer war, ist weg: Reichtum, Familie, Gesundheit.

Seine Freunde lassen sich vom tragischen Schicksal berühren. Sie besuchen Hiob, um mit ihm zu klagen, ihn zu trösten. Sie halten die Situation aus, ohne sie verstehen oder analysieren zu wollen: «Und sie setzten sich zu ihm auf die Erde, sieben Tage und sieben Nächte, und keiner sagte ein Wort zu ihm, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr gross war» (Hiob 2,13).

Die Klage unterbrechen

«Die drei Freunde nehmen Hiobs Schmerz ernst und werden Zeugen seines Leidens», sagt der Psychoanalytiker Daniel Barth. Das sogenannte Witnessing, das Zeugesein, sei ein wichtiger Teil bei der Arbeit mit traumatisierten Menschen. Es lässt die Betroffenen ganz bei sich und ihren Gefühlen ankommen.

«Traumatisierte brauchen jemanden, der einfach nur da ist und bestätigt: ‹Ich sehe, wie schlimm es für dich ist.› Das kann sehr heilsam sein.» In dieser Funktion sind die Freunde wichtig. «Hiob wäre nicht Hiob ohne seine Freunde», sagt Barth. Er brauche sie, um sich über seinen Zustand klar zu werden und seine Position zu finden.

Traumatisierte brauchen jemanden, der einfach nur da ist und bestätigt: ‹Ich sehe, wie schlimm es für dich ist.› Das kann sehr heilsam sein.
Daniel Barth, Psychoanalytiker

Zuerst sind die Freunde gute Zuhörer. Doch mit der Zeit geht ihnen das Gejammer auf die Nerven. «Wer viel zuhört und Schweres mitträgt, hat irgendwann genug», weiss der Psychoanalytiker. «Dann versucht man, mit guten Ratschlägen die Endlosschlaufe des Leidens zu unterbrechen.» Die Freunde helfen auch dann, wenn sie sich nach dem Trauern ein Urteil bilden.

Die Suche nach Sünden

Die Freunde raten Hiob, den eigenen Anteil an seinem Leiden anzuerkennen und zuzugeben, dass er es durch seine Sünden selbst verursacht habe. Nach dem Motto: «Wenn es dir schlecht geht, bist du selber schuld.» Sie fordern ihn auf, eigene Fehler zu analysieren, um sie in Zukunft zu vermeiden.

Daniel Barth kennt das Phänomen. «Viele Menschen glauben, mit einer therapeutischen Aufarbeitung der schmerzhaften Lebensthemen weiteres Leiden verhindern zu können.» Doch oft entspreche diese Erwartung nicht der Realität.  

Es gibt ein existenzielles Leiden, das weder wegzutherapieren noch zu vermeiden ist, sondern zum Menschsein gehört.
Daniel Barth, Psychoanalytiker

In Wahrheit könne das Leben weder durch Bewusstsein noch durch Wohlverhalten oder positives Denken kontrolliert werden. «Es gibt ein existenzielles Leiden, das weder wegzutherapieren noch zu vermeiden ist, sondern zum Menschsein gehört», sagt der Psychoanalytiker.

Das Unglück ohne Sinn

Dem Rat der Freunde, die Schuld für sein Leiden bei sich zu suchen, folgt Hiob nicht. Aber ihre Intervention ist trotzdem wichtig. «In den Gesprächen sammelt Hiob Argumente gegen die Denkweise, jeder sei für sein Schicksal verantwortlich», meint Barth.

Hiobs Schlussfolgerung ist radikal: Nur Gott allein ist die Ursache. «Dadurch kann er aufhören, seinem Leiden einen Sinn abzuringen.» Er müsse auch nicht mehr versuchen, es aus sich heraus zu beenden. «Und er fängt an, die Idee eines gerechten Gottes zu hinterfragen.»

Daniel Barth erkennt darin einen wichtigen Entwicklungsschritt: «Er gibt sein Idealbild von Gott auf, ohne die Beziehung zu ihm aufzugeben.» Das braucht Demut und Mut: die Demut, das Unfassbare anzunehmen, den Mut, an die unbedingte Beziehung zu glauben. Und die Fähigkeit, Gegensätze und Ambivalenzen auszuhalten. Hiobs Freunde tragen wesentlich zu diesem Wandel bei.