Wer Ernst Sieber erleben wollte, musste mit ihm unterwegs sein. Im alten VW-Bus lernte man seine Freiheitsliebe, vielleicht gar die Lust an der Rebellion kennen. Verkehrsregeln waren für ihn Empfehlungen, Kolonnen wich er auf den Tramschienen aus. Und irgendwie gehörte der Kleinbus, in dem der fliegende Seelsorger auch schon seine Esel transportierte, ja zum öffentlichen Verkehr. Oder zu den Blaulichtorganisationen. Mindestens.
So ist es auch an dem wolkenverhangenen Herbsttag 1994. Im Radiostudio legt Sieber ein Bibelwort aus, erzählt vom Heiland und der Liebe, die alles ist. Danach geht die Fahrt zum Sune-Egge, dem Spital für Suchtkranke, das Sieber gegründet hat. Der Pfarrer setzt sich ans Bett eines Patienten, umschliesst die knochige Hand fest mit seinen beiden Händen. Er betet, spricht ein Segenswort und zeichnet ein Kreuz auf die blasse Stirn. Dann umarmt Ernst Sieber den von Drogen und Aids gezeichneten Mann. Nachdem er sich in ein anderes Krankenzimmer aufgemacht hat, sagt der Kranke: «Weisst du, der Pfarrer war der erste Mensch, der mich in den Arm genommen hat.» Er lächelt.
Glaubenszeugnis am Letten
Ernst Sieber hat die Menschen berührt. Und er liess sich von ihrem Leid, ihrer Hilflosigkeit, von der Armut berühren. In dieser Theologie der Berührung im doppelten Sinn liegt der Schlüssel zu seinem Lebenswerk. Sie ist nichts anderes als ein Glaubenszeugnis: die Nachfolge auf den Spuren Jesu – im Drogenelend auf dem Platzspitz und am Letten, auf Kältepatrouille durch das reiche Zürich, im Pfuusbus.
Jesus liess alle Menschen an sich heran, die in ihrer Bedürftigkeit und Verzweiflung seine Nähe suchten. Er tadelte die Jünger, wenn sie ihn abschirmen wollten. Wie Jesus den Aussätzigen nicht abwies, sondern «Mitleid fühlte, seine Hand ausstreckte und ihn berührte» (Markus 1,41), ging Sieber auf die Aidskranken und Drogensüchtigen zu. Er sah ihre Verwahrlosung, ihre Einsamkeit und wollte Gemeinde sein mit ihnen. «Die benachteiligten Menschen sind die ersten Adressaten für das Reich Gottes», schrieb er 2015 in seinem Weihnachtsartikel für «reformiert.». Siebers Handeln war biblisch motiviert und von einer tiefen Christusliebe getragen.
In diesem Licht betrachtet, war es nicht Starrköpfigkeit, als Sieber sich zuerst gegen Hygienevorschriften im Umgang mit Patienten in seinen Spitälern wehrte. Es war theologisch konsequent. Er wollte Wärme und Nähe, nie Distanz.
«Du, Pfarrer»
Am 24. Februar 1927 in Horgen geboren, arbeitete Sieber zuerst als Bauernknecht im Sihltal und in der Romandie. Er holte die Matur nach, studierte Theologie. Nach der Ordination 1956 war er Pfarrer in Uitikon-Waldegg. 1967 wechselte er nach Zürich-Altstetten, wo er bis zur Pensionierung 1992 blieb. Pfarrer war er in der Kirche, auf der Gasse, im Bundeshaus. Nicht von ungefähr nannten ihn alle, denen er sich annahm, schlicht den «Pfarrer».
Seine in Diakonie transformierte Theologie war der Gegenentwurf zur staatlichen Sozialpolitik: Statt von Klienten sprach er von Schwestern und Brüdern, statt auf Projekte mit externer Evaluation setzte er auf konkrete Hilfe, verteilte nicht nur im Bunker, den er während der Seegfrörni 1963 am Zürcher Helvetiaplatz als Unterkunft für Obdachlose einrichtete, Fünfliber.
Die Kanzel steht überall
Dass bei Sieber bereits eine saubere Buchaltung unter Bürokratieverdacht zu stehen schien, war wenig hilfreich, als seine Werke vor rund 15 Jahren in finanzielle Schieflage gerieten und saniert werden mussten. Doch die kritische Distanz ihres Gründers zu Institutionen blieb wichtig, damit die Sieberwerke ihre christliche und im guten Sinn widerspenstige Identität bewahrten. Warnten die Behörden vor einer Sogwirkung für osteuropäische Wanderarbeiter, richteten sie im Winter 2014 trotzdem eine Notschlafstelle ein, weil christliche Nächstenliebe keine Grenzen kennt. «Weihnachten heisst, Gott wird Mensch. Da kann man niemanden sitzen lassen, auch keinen Wanderarbeiter. Es sind alle zuerst Menschen mit dem Bedürfnis nach Heimat und Wärme», sagte Sieber damals gegenüber «reformiert.». In gelebter Gemeinschaft erkannte er ein Stück Himmel. Sogar wenn es dafür «zivilen Ungehorsam» brauche, mit dem er gerne kokettierte.
Selbst die Lust an der Selbstdarstellung stellte der begnadete Prediger in den Dienst seiner Mission. Sieber fand seine Kanzel überall. Im Nationalrat, in den er 1991 gewählt wurde, aber nach einer Legislatur mit der Einsicht verliess, dass er für die politische Kleinarbeit nicht taugt, und an Medienkonferenzen sowieso. Gerne verwendete er Hilfsmittel, wie den Schraubstock, den er an den Schläfen festschraubte, um ihn zu lösen und zum Kreuz zu formen. Der Schraubstock und die Botschaft dieses Pfarrers prägten sich auch damals im Dorfgottesdienst in der Mehrzweckhalle ins Gedächtnis ein, als das Kind wenig verstand und dennoch genau spürte, worum es geht. Was den Menschen einengt und quält, löst sich mit Blick auf die Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus offenbart.
Den Zweifeln den Garaus machen
Die Menschwerdung Gottes und die Auferstehung des gekreuzigten Christus standen für Sieber für die grosse Befreiung und die Zusage Gottes, dass jeder Mensch seine Würde behält. Bis ins hohe Alter konnte er aufblühen im Gespräch über Kirche und Theologie. So auch im Dezember 2015. Es ging gegen Mitternacht, als Sieber anrief, um die letzten Änderungen an seinem Weihnachtsartikel zu besprechen. Sein Wissen, seine Präsenz, seine Beharrlichkeit, sein «Bhüeti Gott».
Natürlich ging es in dem Text um den Kern: gelebte Nächstenliebe, den Platz in der Herberge. Sieber wusste um die Angst vor der Überforderung. Er war aber überzeugt: «Diesen Zweifeln kann man den Garaus machen. Es braucht dazu vor allem Solidarität, Achtung vor der Menschenwürde und Gottesliebe.»
Trost, aber keine Ausreden
Es sind typische Sieber-Sätze, die der Pfarrer mit Blick auf die Flüchtlingskrise schrieb. Er akzeptierte keine Ausreden. Im Evangelium fand er zwar Trost und Hoffnung, aber auch die Aufforderung anzupacken, sich von der Not des Nächsten und der Liebe Gottes berühren und zur mutigen Tat bewegen zu lassen. In der Politik, in der Kirche, überall und jederzeit.