Schelmisch lugt der Pfarrer unter seinen buschigen Brauen hervor. Kräftig wie seine Stimme ist auch sein Händedruck, mit dem er uns in seinem Haus im zürcherischen Uitikon empfängt. Überall in der Stube hängen seine selbst gemalten Bilder in leuch- tenden Farben. Die stillende Mutter Gottes, Jesus am Kreuz. Bücher stapeln sich am Boden, auf Tischen und Regalen, in der Mitte thront auf einem Hocker eine grosse Bibel aus dem 16. Jahrhundert.
Zu jedem Gegenstand weiss Pfarrer Ernst Sieber eine Geschichte. Was ihm derzeit aber besonders am Herzen liegt, ist die Figur von Huldrych Zwingli, die er jüngst aus Gips geformt und in Bronze gegossen hat. Exponiert steht sie auf einem kleinen Tisch auf der Terrasse. Die kniehohe, zierliche Statue weist eine Besonderheit auf: Sie hat zwei Seiten. Die eine zeigt den Zürcher Reformator mit Schwert, dreht man die Figur, zeigt sie den anderen, pazifistischen Zwingli, der eine Pflugschar hält.
Schwerter zu Pflugscharen. «Zwingli war nicht nur der Krieger, als den man ihn gerne sieht», sagt Sieber mit erhobenem Zeigefinger. «Er war auch einer, der für den sozialen Frieden und gegen die Reichen gekämpft hat.» Jetzt, im Jubiläumsjahr der Reformation, solle man ihn endlich auch von dieser Seite zeigen. Die Pflugschar, die Sieber dem Bronze-Zwingli in die Hände gab, steht sinnbildlich für den Frieden, der nach biblischer Verheissung über die Menschen kommen wird.
Mit dem ihm eigenen Pathos zitiert Sieber den Propheten Jesaja und wechselt ins Hochdeutsche: «Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Keine Nation wird gegen eine andere das Schwert erheben und das Kriegshandwerk werden sie nicht mehr lernen.» Mit dem Bauernsohn Zwingli fühlt sich der Pfarrer im Denken und Handeln verbunden. Bevor er Theologie studierte, arbeitete er als Bauernknecht. 1956 trat er eine Pfarrstelle in Uitikon-Waldegg an und wechselte später nach Altstetten – als «Knecht Gottes», wie er sich gerne bezeichnet.
Zärtlich betrachtet Sieber die janusköpfige Figur, die er nun in seinen Händen hält. «Zwingli war ein Wohltäter. Einer, der sich für die Armen eingesetzt hat», bemerkt er und erinnert an den von Zwingli angeregten «Mueshafe»: Jeden Morgen wurde in der Zürcher Altstadt ein grosser Bottich mit Brei bereitgestellt und den Armen ein warmes Essen gereicht. In dieser Tradition steht Sieber. Er hatte immer ein Herz für die Armen. Sein ganzes Leben verbrachte er mit Drogensüchtigen und Obdachlosen, seinen «Brüdern und Schwestern», wie er sie nennt.
Erstmals auf sich aufmerksam machte der charismatische Pfarrer im eiskalten Winter von 1963, der Zürcher «Seegfrörni». In einem alten Bunker richtete er eine Unterkunft für Obdachlose ein. Daraus wurde die selbst verwaltete Wohn- und Arbeitsgemeinschaft Suneboge. Ende der 1980er-Jahre begann er sich um die Drogensüchtigen auf dem Platzspitz zu kümmern. Es entstanden Anlaufstellen, Notschlafstellen, ein Aids-Hospiz und Rehabilitationseinrichtungen. Manchmal musste auch Sieber für seine Anliegen kämpfen. Laut poltern, um sich bei der Stadt für die Bedürfnisse der Ärmsten Gehör zu verschaffen. Spitzbübisch sagt er: «Stadtpräsidentin Corine Mauch habe ich ein Zwingli-Bild mit Schwert und Pflug geschenkt.» Die Beschenkte sagt über ihn: «Wo andere wegschauen, will er hinschauen. Er ist ein Kommunikationstalent, ein wortgewaltiger Redner, ein Mann für grosse Symbolik.Und diese Talente setzt er immer wieder ebensoeinmalig wie wirkungsvoll ein. Immer für eine gute Sache, immer verbunden mit seiner nicht zu übertreffenden Menschenliebe.»
Für eine menschenwürdige Drogenpolitik machte sich Sieber auch in Bundesbern stark: Von 1991 bis 1995 sass er für die Evangelische Volkspartei im Nationalrat. Legendär sind seine Auftritte am Rednerpult mit dem Kreuz in der Hand.
Im gleichen Hemd. Der Politalltag war zwar nicht seine Welt, die Lust am Debattieren hat er aber nicht verloren. «Jetzt muss der Westen die christlichen Werte hochhalten», mahnt er eindringlich. Auch die Kirche müsse sich aktiv einmischen, «revolutionär auftreten mit dem gegenwärtigen Christus vor Augen». Und nicht den «gnädigen Herrn» spielen; dagegen habe sich ja schon Zwingli gewehrt.
Bevor er den Hut nehme, habe er noch eine Mission zu erfüllen, betont Sieber, der am 24. Februar seinen 90. Geburtstag feiert: Er will sein Dorf bauen. Ein selbst verwaltetes Dorf für bedürftige Menschen aus zwei, drei Häusern und einer Kirche mittendrin. «Eine leerstehende Kirche in Zürich, das wärs.»
Obwohl das Alter auch vor ihm nicht Halt macht, wirkt Pfarrer Sieber kein bisschen müde. «Ich habe doch gar keine Zeit, ans Alter zu denken.» Regelmässig besucht er seine Brüder und Schwestern im «Pfuusbus» oder «Sune-Egge». Heute aber will er nach Horgen, um seine Bronzeskulpturen mit dem Heiland am Kreuz zu zeigen. Er zieht sich einen zerschlissenen Mantel über, herzt seine Frau Sonja zum Abschied. Die Kunst sei ihm wichtiger Ausgleich: Schreiben, Malen, Bildhauern. Stets trage er dazu ein altes Spitalhemd. Auch Zwingli habe ein solches «Tolggenhemd» getragen, wenn er am Pult stand und schrieb.