Recherche 11. Februar 2019, von Felix Reich

«So wird die Sozialhilfe überflüssig»

Gesellschaft

Sieberwerk-Leiter Christoph Zingg kritisiert die Revision der Sozialhilfe scharf. Wer Hilfe vom Staat benötige, stehe im Verdacht, ein Querulant zu sein.

Die Schweiz hat einen gut ausgebauten Sozialstaat. Warum braucht es trotzdem Institutionen wie das Sozialwerk Pfarrer Sieber?

Christoph Zingg: Das Sozialsystem funktioniert. Aber es ist an Auflagen geknüpft: Die Leute müssen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt melden, Formulare ausfüllen, sich immer wieder neu qualifizieren. Die Menschen, die uns anvertraut sind, schaffen das einfach nicht.

Oder sie wollen nicht?

Ich bin unterdessen am Punkt, an dem ich sage: Sie können nicht. Und das Problem wird sich verschärfen.

Warum?

Wird das neue Sozialhilfegesetz des Kantons in der vorliegenden Form beschlossen, braucht es keine Sozialhilfe mehr. Die Revision nimmt keine Rücksicht darauf, dass viele Sozialhilfebezüger in ihren Möglichkeiten beschränkt sind. Könnten sie so gut schreiben, lesen, denken, wie verlangt wird, hätten sie längst einen Job. Die bürokratischen Hürden sind extrem hoch.

Aber der Kampf gegen den Missbrauch dient doch dazu, die Akzeptanz der Sozialhilfe zu stärken.

Die Debatte um Sozialhilfebetrug wird unendlich aufgebauscht. Die Vorlage atmet nun einen Grundverdacht, der ein Menschenbild voraussetzt, das einer zivilisierten Gesellschaft schlicht nicht würdig ist.

Ein hartes Urteil.

Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen. Das steht in unserer Verfassung. Ich befürchte, dass das immer weniger Menschen bewusst ist. Ein Viertel der Leute, die Anrecht auf Sozialhilfe hätten, beantragen das Geld gar nicht: Aus Scham, aus Überforderung oder aus Angst vor der Bürokratie. Sozialhilfebezüger stehen unter Generalverdacht, faul, nicht systemkonform,  Querulanten zu sein. Sozialhilfe war als Brücke gedacht. Das ist sie in dieser Betrachtung nicht mehr.

In der Realität ist die Sozialhilfe jedoch häufig eine Sackgasse.

Vielleicht auch einfach die letzte Rettung. Sozialhilfe ist nicht der Wellness-Bereich für Arbeitslose, zu dem sie in der politischen Diskussion gemacht wird. Solange es Menschen gibt, die aus der Sozialhilfe fallen oder nicht den Zugang dazu finden, braucht es Institutionen wie das Sieberwerk.

Auch die Stadt Zürich hat die Gassenarbeit ausgebaut.

Stimmt, aber der politische Wind kann schnell drehen. Ich war jüngst in Vancouver. Ich hatte gehört: tolle Architektur, sexy Groove. Das Erste, das ich sah, waren Obdachlose, einen nach dem andern. Einst gab es in Vancouver ein privates Wohlfahrtssystem. Doch die linke Regierung baute dann eigene Unterkünfte und drängte die Privaten zurück. Als eine rechte Regierung an die Macht kam, wurde die Hilfe wieder zurückgefahren, doch die privaten Hilfsangebote waren längst weg.

Dann leben wir in Zürich also jetzt mit Doppelspurigkeiten für den Fall, dass die Mehrheiten ändern?

Nein. Der Ausbau war richtig. Wir arbeiten sehr gut mit den städtischen Stellen zusammen. Es gibt halt auch Menschen, die halten es nicht lange an einem Ort aus. Es ist wichtig, sie nicht einfach abzuweisen, sondern weiter zu vermitteln.

Wurde das Sieberwerk entlastet?

Die Belegzahlen unserer Einrichtungen steigen weiterhin an. Und im Iglu, wo arbeitsuchende Armutswanderer aus den ärmeren Ländern Europas unterkommen, beherbergen wir Menschen, die es für die Stadt gar nicht geben darf.

Wie erklären Sie sich die konstant hohe Nachfrage?

Bei uns finden Menschen eher Gemeinschaft. Wir muten den Mitarbeitenden mehr zu, bei der Stadt erhält jemand schneller Hausverbot. Und wir können Regeln brechen, nehmen auch einmal jemanden ohne Kostengutsprache in die Therapie auf, damit er nicht sechs Monate warten muss und wieder abstürzt.

Blitzt da der zivile Ungehorsam von Pfarrer Ernst Sieber auf?

Diese Freiheit zugunsten notleidender Menschen wollen wir uns bewahren. Unlängst fand eine Frau mit ihren beiden Kindern keine Unterkunft. Sie war auf der Durchreise. Wir quartierten sie im Iglu ein, obwohl dort nur Männer aufgenommen werden dürfen. Ich wies den Leiter an, einen Bereich abzugrenzen. Platz war genug da, und die Familie brauchte eine Herberge.

Eine Weihnachtsgeschichte.

Ganz genau.

Christoph Zingg

Pfarrer Christoph Zingg (57) leitet das Sozialwerk Pfarrer Sieber seit 2011. Zuvor war er Geschäftsführer der Zürcher Stadtmission. Das Sieberwerk gründete der an Pfingsten 2018 verstorbene Pfarrer Ernst Sieber 1988 als Reaktion auf das Drogenelend am Platzspitz. Zingg ist verheiratet und Vater von drei jungen Erwachsenen.