Recherche 23. Mai 2018, von Sandra Hohendahl-Tesch

«Ein starker Botschafter für gelebtes Christentum»

Abschied

Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber prägte die Menschen, die ihn umgaben. Er war ihnen Vorbild – konnte sie aber auch mal auf dem falschen Fuss erwischen.

«Wenn es um Menschen ging, war ihm der Dienstweg egal.» Seine Hartnäckigkeit war ab und zu anstrengend, aber auch prägend, sagt der Zürcher Kirchenratspräsidenten Michel Müller über Ernst Sieber, der am Pfingstsamstag im Alter von 91 Jahren gestorben ist. Das erste Mal begegnete ihm Müller als Student an einer Obdachlosenweihnacht. Der Umgang des charismatischen Pfarrers mit den Schwächsten der Gesellschaft motivierte den angehenden Theologen, ebenfalls diakonisch tätig zu sein. Kurz nach dem Studium half Müller einmal in der Woche in der Basler Gassenküche mit.

Als Synodaler setzte Müller sich später für die Sanierung der Sieberwerke ein, die ihm auch heute «sehr am Herzen liegen». Ein besonderer Moment war die Begegnung mit Ernst Sieber an der Vernissage des Lehrmittels, in dem der Obdachlosenpfarrer vorkommt.

Die Not der Mitmenschen als Kompass

«Er war ein Botschafter für ein gelebtes Christentum, wie es nur ganz wenige gibt», sagt die frühere EVP-Nationalrätin Maja Ingold auf Anfrage. Sieber habe ihr als «spezieller Vertreter im Nationalrat» sehr imponiert. Seine Zeit in Bundesbern von 1991 bis 1995 war zwar eine Generation vor ihrer – doch sei ihr in Gesprächen mit zahlreichen Menschen immer wieder bewusst geworden, was für eine «Ausnahmepersönlichkeit» er mit seinem unermüdlichen Engagement für Menschen am Rande der Gesellschaft war. Gerechtigkeit, Respekt und Achtung vor Andersdenkenden und Anderslebenden – das sind auch Ingolds politischen Leitplanken und Sieber damit ein grosses Vorbild.

Von Kindsbeinen an hat Ernst Sieber auch Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist beeinflusst. Sein Vater arbeitete mit ihm im Obdachlosenbunker am Helvetiaplatz und nahm ihn als Bub ab und zu mit dorthin. Von Sieber habe er gelernt, «dass Kirche Diakonie und die Not der Mitmenschen der Kompass von allem ist, was wir als Christen in der Gesellschaft tun –  unabhängig von Religion und Konfession.» Sieber habe es verstanden, Humor und Ernsthaftigkeit auf einzigartige Art und Weise zu verbinden.

Zwingli mit der Schaufel

Beindruckt war Sigrist auch von Siebers Kunst: Insbesondere von der Zwingli-Figur aus Bronze, die in der einen Hand ein Schwert und eine Bibel, in der anderen eine Schaufel hält. «Es ist die Aufgabe jedes Christen, anzupacken.» Denn Kirche findet draussen statt – was ihn an die Feier zum 80. Geburtstag  von Ernst Sieber im Jahr 2007 im Grossmünster zurückdenken lässt. «Weil viele Menschen keinen Platz in der Kirche fanden, ging Ernst ganz einfach vor die Türe, um dort mit ihnen das Abendmahl zu halten.»

Auch Regula Rother, ehemalige Leiterin der Zürcher Stadtmission, hat ihre Erinnerungen an Pfarrer Ernst Sieber: «Auf dem linken Fuss» habe er sie erwischt. Damals, als sie für die reformierte Landeskirche tätig war. Der Obdachlosenpfarrer forderte sie während einer Weiterbildung «völlig unerwartet auf, einen Bibeltext vorzulesen.» Später hat sie während ihrer Zeit in der Stadtmission einige Projekte mit ihm aufgegleist, etwa die Bereitstellung von Notschlafstellen in kalten Wintern. «Eine gewisse Konkurrenz zwischen den Sozialwerken war jedoch spürbar», so Rother. Einmal organisierten sie mit ihm zusammen eine Medienkonferenz. Was als Begrüssung für die Journalisten geplant war, ist zu einer Predigt ausgeartet, so dass alle anderen – unter anderem der damalige Kirchenratspräsident Ruedi Reich – kaum mehr zu Wort kamen. «Sein schauspielerisches und medienwirksames Talent gehörte eben auch zu ihm.»

Eine grosse Leere

Christoph Zingg, Gesamtleiter der Sieberwerke, ist von Siebers Tod stark bewegt. «Es ist eine Leere da, die sich fast surreal anfühlt», sagt er. Er habe zwar schon länger damit gerechnet. Vorstellen konnte er sich aber nicht wirklich, wie es dann tatsächlich sein würde. «Ich merke einfach, dass ein Vorbild gegangen ist, jemanden, den ich als Menschen und als Theologen sehr respektiert habe.» Denn in seiner Orthopraxie  – «der Auffassung von einem gelebten Christentum, das dahin geht, wo es weh tut, wo man etwas aushalten muss» – fühle er sich mit Pfarrer Ernst Sieber stark verbunden.