Recherche 09. Dezember 2015, von Ernst Sieber

Willkommen in der Herberge

Weihnachten

Macht Platz in der Herberge, und macht Platz in euren Herzen! Die Weihnachtsbotschaft von Pfarrer Ernst Sieber.

Der Aargauer Schriftsteller Bruno Schlatter schrieb ein Krippenspiel zu Weihnachten, das mein Herz immer wieder bewegt. Roberto, ein Italienerbub, wurde vom Lehrer bei der Auswahl der Figuren für das Krippenspiel mit der Rolle des Wirtes einer Herberge betraut. Von der Klasse wollte niemand diese Rolle spielen, weil den Kindern die im Text festgehaltene Bemerkung «Kein Platz in der Herberge» absolut nicht gefiel. Roberto übernahm die Rolle, nachdem ihm sein Vater gesagt hatte, er müsse unbedingt mitspielen, sie seien Ausländer und deshalb müssten sie sich anpassen.

Alles ging gut bei der Aufführung bis zu der Stelle, an der Roberto Maria gemäss dem Bibeltext wegweisen sollte. Da passte er sich nicht an. Statt Maria und Joseph wegzujagen, hörte er auf sein Inneres und sagte laut und deutlich: «Kommt herein, bei mir habt ihr Platz, und zu essen habe ich auch!»  – «Spinnst du», flüsterte Maria ihm zu. Das Spiel wurde abgebrochen. Der Vater nahm seinen Sohn in die Arme und sagte zu ihm: «Du bist kein guter Schauspieler, aber ich bin stolz auf dich.»

DenZweifelndenGarausmachen. Kein Platz in der Herberge? Das ist das hochaktuelle Thema unserer Tage, auch in unserem Land. Die schwer geprüften Flüchtlinge erleben harte Zeiten auf den verschiedenen Flüchtlingsrouten. In München und anderswo in Deutschland wurden die gehetzten Menschen herzlich aufgenommen und bewirtet.

Es ist kaum zu glauben, aber wahr: Seit der Syrien-Krise hat die Hilfsbereitschaft seitens der Bevölkerung zugenommen, auch in der Schweiz. Viele Länder sind bereit, grössere Kontingente von Flüchtlingen aufzunehmen. Es mag wohl sein, dass eine Bevölkerung, wie zum Beispiel in Deutschland, mit dieser Offenheit für Flüchtlinge übers Mass strapaziert wird. Aber lasst uns trotzdem unsere christliche Verantwortung wahrnehmen, die mit Weihnachten zu tun hat. Weiterhin braucht es dringend Raum zur Unterbringung von Flüchtlingen. Namhafte Politiker und verantwortungsbewusste politisch Beauftragte zweifeln, ob überhaupt eine Lösung möglich ist. Ich glaube hingegen, diesen Zweifeln kann man den Garaus machen. Es braucht dazu vor allem Solidarität, Achtung vor der Menschenwürde und Gottesliebe.

WeihnachtenisteineRevolution. Immer wieder hören wir in der aktuellen Flüchtlingsdebatte den Satz: «Jetzt stehen die gemeinsamen Werte Europas auf dem Spiel.» Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler gibt Weihnachten eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der menschlichen Werte. Er nannte Weihnachten kürzlich eine theologische, politische, soziale und kulturelle Herausforderung. Er wies auf Jesus Christus in der Krippe hin und betonte die Geschichte der Menschwerdung.

Menschwerdung bedeute nichts anderes, als dass Menschenwürde für jeden Menschen gelte. Aber auch Freiheit und bürgerliche Rechte wie zum Beispiel die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Winkler hat das Geschehen in Bethlehem eine Revolution genannt. Der Mensch müsse, um Mensch sein zu können, eine freie Welt erleben und seinen Platz haben.

Die Raumnot der Ärmsten und die Ausgrenzung der sozial Schwächsten ist eine Tatsache durch alle Jahrhunderte hindurch bis heute. Ich habe mein Leben für die Armen eingesetzt, von denen viele bis heute keinen Platz in der Gesellschaft finden. Zum Beispiel weiss ich von einem Bruder aus der Armenszene, der sich einen Sarg bastelte, in einem dunklen Kellerwinkel platzierte und sich Nacht für Nacht darin schlafen legte. Wie die Bibel sagt, sind die benachteiligten Menschen die ersten Adressaten für das Reich Gottes. Die Ärmsten waren ja die ersten Besucher bei der Krippe.

Es gibt viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, welche die Situation erkannt haben. Sie lindern mit vollem Einsatz die Not der Flüchtlinge. Offenbar hat das Flüchtlingsdrama auch die Kirche geweckt, die vielfältige Hilfe leistet. Aber die Not dauert an und Kirche und Staat helfen hoffentlich weiter, denn der Flüchtlingsstrom wird angesichts der Kriege und Krisen in der Welt nicht abbrechen.

MachtPlatzineuremHerzen. In einer Welt voller Brutalität und menschenverachtender Tendenzen müssen wir aufgrund von Weihnachten zeigen, dass wir nicht bereit sind, radikales, patriarchalisches Gedankengut zu dulden. Denken wir wieder an das Krippenspiel. Weihnachten wird durch die Liebe Jesu Christi zu einer befreienden guten Zukunft führen. Die Liebe, die sich durch Weihnachten offenbart, zeigt uns Jesus, das Kind in der Krippe, aber auch der Gekreuzigte. Er ist der auferstandene Christus. Das ist die ganze Weihnacht.

Erinnern wir uns noch einmal an Roberto, der entgegen dem Text im Krippenspiel bannbrechend und dickköpfig für die Liebe handelt. Er öffnet sein Herz für die Letzten. Hier zeigt sich das Herz Jesu, das für alle Menschen schlägt. Und dann können wir getrost als Weihnachtswunsch dem Wort des Zürcher Reformators Zwingli Folge leisten: «Tut um Gottes Willen etwas Tapferes.» Macht Platz in eurem Herzen und in unserer Gesellschaft und unserer Welt – mit Gottes Segen.