Freier Himmel bevorzugt
Kurz vor 22 Uhr an einem Samstagabend im Januar in Zürich. Eine Gruppe von fünf Männern steigt an der Haltestelle «Strassenverkehrsamt» aus dem Tram 13 aus. Schnee fällt auf ihre dicken Outdoorjacken. Selbst die dickste Thermojacke wehrt in dieser Nacht nicht die bissige Kälte ab. Eine Nacht, in der nicht nur das Männer-Quintett froh ist, Unterschlupf im Pfuusbus des Sieber-Sozialwerks zu finden.
Im Vorzelt des Pfuusbus kauert ein schlafender Mann neben seinem Hund. Die Neuankommenden registrieren sich bei der «Hüttenwartin» für einen warmen Schlafplatz. Aber nicht alle Obdachlosen Zürichs lockt es in dieser Schneematsch-Pfützen-Nacht in die warme Stube. Manche ziehen es vor, draussen zu schlafen. Alleine. Ohne Gesellschaft. Ein Pfuusbus-Gast mit krausem Bart erklärt: «Hier prallen oft zwei Szenen aufeinander – die Alkis und die Drögeler.» Oft gäbe es Streit. Lauten Streit. Ans Schlafen sei dann nicht mehr zu denken. Auch psychische Probleme machten es manch einem schwer, so viel menschliche Nähe auszuhalten.
An den hölzernen Klapptischen schlürfen einige Gäste warmen Tee. Auch Mike und Ica sitzen da. Mike ist schon lange als Freiwilliger für das Sieber-Werk unterwegs und sonst verdient er als IT-Spezialist sein Geld. Heute wird er mit der pensionierten Touristikerin Ica zusammen ein fürsorgliches Auge auf die Menschen werfen, die in dieser unwirtlichen Winternacht draussen bleiben. Ica ist seit vier Monaten bei der Kältetour engagiert. Mit dem Skoda fahren sie bekannte Schlafstellen der Outdoor-Obdachlosen an, schenken warmen Kaffee aus, verteilen Lebensmittel und informieren über Notschlafstellen in Zürich. Jetzt beugen sie sich übers Protokoll-Buch, lesen, was die Patrouilleure nachts zuvor an besonderen Vorkommnissen notiert haben, und planen die Route.
Wenige Minuten später im kleinen Auto erläutert Mike, warum er sich seit drei Jahren beinahe wöchentlich als Hüttenwart oder Kältepatrouilleur die Nacht um die Ohren schlägt: «Meine Kindheit hat mich schon früh mit dem Leid der Drogenszene in Berührung gebracht.» Näher will er auf seine biografischen Motive nicht eingehen. «Wer beim Patrouillendienst mitmacht, sollte nicht vom Helfersyndrom befallen sein», sagt er. Zaghaft reckt Ica ihren Zeigefinger, bekennt, nicht vom Helfersyndrom frei zu sei. Im Laufe der Nacht wird klar: Hier könnte man von einem Sieber-Nächstenliebe-Syndrom sprechen. Ica bewundert Pfarrer Sieber seit Jahrzehnten.
Die Reisekauffrau ist bestimmt schon dreimal um die Welt gedüst. Nun macht sie Expeditionen in die Welt der Obdachlosen. Ihr verstorbener Mann, das gibt sie freimütig zu, hätte ihr mit allen Mitteln auszureden versucht, auf Kältepatrouille zu gehen. Auch ihre Tochter war erschreckt und fragte sogleich: «Hast du auch ein Pfefferspray bei dir?» Mittlerweile ängstigt sie sich weniger und empfiehlt nur noch: «Mami, zieh dich warm an.»
Warm sollen es auch die Obdachlosen haben. Deshalb finden sich im Kofferraum Schlafsäcke. «Wir schauen, ob die Menschen für eine Nacht draussen gut gerüstet sind», erklärt Mike und steuert das Auto an die Sihl. Inzwischen regnet es. Mike gibt schon schon mal die Verhaltensregeln durch: Ausschliesslich mit wachen Randständigen wird das Gespräch gesucht. «Wenn sie keine Kontaktaufnahme wünschen, respektieren wir das.»
Wärmen am Händetrockner
Mit vorsichtigen Schritten geht er die rutschige Böschung hinunter, bis der Lichtkegel seiner Taschenlampe unter der Brücke verschwindet. Tatsächlich hat hier ein Mann seinen Schlafsack ausgerollt. «Er schläft schon», erklärt er und fügt hinzu, dass es gerade im Winter wichtig sei, die Leute nicht aus dem Schlaf zu holen. Die Patrouilleure haben ein Auge dafür entwickelt, welche Schläfer sie problemlos weiterschlafen lassen können und bei welchen Unterkühlung droht.
Nächste Station ist die WC-Anlage eines zentralen Platzes. Ica erklärt, dass hier mancher sitzend eine kalte Nacht verbringt und sich an dem Händetrockner aufwärmt. Längst haben die Obdachlosen die Technik der WC-Anlage überlistet, um den schlafstörenden Warnton auszuschalten, der ertönt, wenn die Kabine mehr als fünfzehn Minuten verschlossen ist.
Die nächste Station liegt über der Schneefallgrenze. In einem abgelegenen Wäldchen am Stadtrand – das war schon im Protokollbuch notiert – hat sich eine Deutsche eingerichtet. Mike geht alleine an die bezeichnete Stelle und findet dort die schlafende Frau. In dieser Nacht wird sich das mehrmals wiederholen: Viele Obdachlosen haben den Schlaf bereits gefunden, bevor die Patrouille ankommt.
Partymeile Shopville
Im Häuschen einer Tramendstation ist die Frau, die dort schon seit Längerem nächtigt, heute nicht zu finden. So geht es weiter hinunter in die Stadt. Schon bewegt sich der Uhrzeiger auf ein Uhr zu. Halt am Hauptbahnhof, der samstags nach Mitternacht völlig verwandelt daherkommt. Wo sonst das Shopville von Menschenmassen durchflutet ist, macht sich nun trinkfreudiges Partyvolk breit. Bierdosen, Spirituosenflaschen reihen sich auf dem Boden auf – das ganze Arsenal eben zum Vorglühen, bevor es in den Club geht. In Stühlen von Möbelhäusern oder auch in elektrischen Massagesesseln machen die bereits von Tanz und Hochprozentigem Erschöpften ihr erstes Schläfchen. Oft finden sich hier auch Randständige, die hier unten den ersten Teil der kalten Nacht verbringen.
An diesem Samstag ist aber Fehlanzeige. Auch im stossend vollen McDonalds, der oft als Wärmestube der Obdachlosen dient, kann Mike kein ihm bekanntes Gesicht entdecken. Er lobt den Burger-Brater am Bahnhofsplatz. «Sie sind sehr tolerant gegenüber den Obdachlosen und gestatten ihnen auch ohne Konsumation eine längere Pause.»
Im Protokollbuch ist notiert, dass in Bahnhofsnähe eine neue Person ihr nächtliches Nest gebaut hat. Zuvor aber geht es an einem Ladengeschäft vorbei. Eingehüllt in eine graue Plastikplane, liegt dort im Eingang ein Schläfer. Nur wenige Steinwürfe von der Bahnhofstrasse entfernt, hat dieser Obdachlose seinen Platz gefunden.
Angst vor Männer-Übergriff
Unweit davon regt sich noch etwas unterm Schlafsack. Als aber Mike näher herantritt, flüchtet die Frau. «Frauen haben oft Angst vor Männern», sagt Ica. Sie will einmal bei Tageslicht vorbeigehen und mit der Frau reden. Und Ica hat auch immer einen Türöffner fürs Gespräch dabei, der eigentlich nicht im Sieber-Nothilfe-Set aus Lebensmitteln und Medikamenten vorgesehen ist: Zigaretten.