Schwerpunkt 27. November 2019, von Romana Ganzoni

Advent an einem Dienstag im August

Kitsch

Was das für die Redaktion ist. Und wie die Erzprotestantin und Schriftstellerin Romana Ganzoni dem Kitsch doch noch eine Friedensbotschaft abringt.

Die erste Weihnachtspost erreicht mich an einem Dienstag im August. Ein Hotel schreibt: «Ja, Sie sehen richtig. Ein Weihnachtsbild und unten folgen noch weitere.»

Während ich die Tube Sonnencreme, Schutzfaktor 50, zuschraube, knistert im Laptop ein pseudoadventlicher Text, überzuckerte Vorverkaufsfreude. Das Bild: Stube mit weinrotem Samtsessel, darauf ein Pelzkissen, die glitzernde Eule auf dem Fenstersims, Windlichter, Kerzen, im Blick auch eine Etagere mit bunten Glaskugeln. Draussen vermute ich den weissesten Schnee seit Menschengedenken. Das bedeutet mir: Falls Sie bald existenziell oder real frieren sollten, bei uns sind Sie im flauschigen Futteral aufgehoben, ein Ort gegen alle Unbill. Weihnachten, ganz auf Sie zugeschnitten. Fürchten Sie sich nicht! Lassen Sie sich in Ruhe einlullen, sofern Ihr Budget reicht.

Knüppelharte Heilslehre

Der ganz normale Dezemberkitsch an einem Dienstag im August. Die Protestantin legt die Sonnencreme weg, um konzentrierter die Nase rümpfen zu können. Wie dreist finde ich diesen überdeterminierten Kommerz-Plunder und Abklatsch des Religiösen, die Verhöhnung des Weihnachtsgedankens, die ich unlängst am Familientisch dozierte, im Grunde ist jede Darstellung von Glauben Kitsch. Tiefste Bewegtheit ist unsagbar, das Geheimnis neigt nicht dazu, sich mitteilen zu wollen. Ein innerlicher Vorgang, einzigar­tige Berührung des Individuums, intimer als Sex, persönlichstes Geschenk: in aller Öffentlichkeit ausgepackt und feilgeboten? Andere überzeugen? Wozu? Pfui Teufel!

Und jetzt? Jetzt kommen, wie sich das gehört, die Zweifel. Die christ­liche Heilslehre ist ja knüppelhart und drastisch. Ob ich an Himmel und Hölle glaube, zeigt dieses Leben und nicht eine Aussage darüber. Jedes Agieren hat ewige Folgen, weil man ewig weiterlebt.

Meine unverwechselbare Seele, göttlich abgesegnet, wird von Ewigkeit zu Ewigkeit bestehen. Über die Art, wie sie besteht, entscheidet allein mein irdisches Leben. Wer hält das aus? Im Glauben hat alles Konsequenzen, minütlich präpariere ich meine Ewigkeit. Starker Tobak.

Inhaltlich sind die Zehn Gebote bindend, inklusive Nächstenliebe. Jesus ist im Nächsten. Diese Aktivität ist glaubensmässig das Gegenteil von Kitsch. Kitsch ist ein Selbstrettungsversuch, er bezieht sich nur auf sich. Auch die Antike erkennt die Abkapselung des Egos als etwas Negatives, gut ist gar nicht so sehr tugendhaft oder moralisch, gut ist, was ich über mich hinaus mache. Selbstbezogenheit banalisiert, deshalb muss sie verkitscht werden.

Zum Christlichen gehören Geschichten. Weihnachten: die Erzählung über Ankunft, Hoffnung, Armut, Blösse. Kein Wort von einer Glitzereule, hallo! Aber, nun ja: Heilige Familie, Ochse, Esel, Hirten, Könige. Kometen-Kitsch? Glaskugeln auf der Etagere, Windlichter? Nehmen sie nicht einen Widerschein auf, parken sie ihn nicht in Stubendimension, fühl- und greifbar? Steht die grosse Sehnsucht nicht auch hinter diesem kleinen Sau-Kitsch, ist er vielleicht besser als sein Ruf, menschlicher, als der elitäre Blick wahrhaben will, der ja weiss: Kitsch und Kunst kommen voneinander nicht los.

Glitzereule und Verlustangst

Es ist zu einfach, den Kitsch zu verlachen und ihn als schlechtzen Geschmack, Nachahmung, Manko an echtem Gefühl zu brandmarken. Er ist ein Kampfbegriff, der Hierarchie schafft. Balanciert zuoberst etwa ­eine erzbescheidene Protestantin?

Mit Schutzfaktor 10 sagt sie vielleicht: Im Kitsch spiegeln sich die Verlustangst und zugleich die goldblitzende Abwehr dieses Verlustes, aus denen echte Melancholie und Sehnsucht sprechen. Nicht ausgeschlossen, dass falscher Kitsch echte Gefühle generiert, so wie echte Gefühle in wahrhaftigen Superkitsch münden können. Da es sich um ein verschwommen religiöses Ereignis handelt, war meine Strenge besonders unpassend. Nicht nur Kunst und Kitsch sind ein Paar, Religion und Kitsch sind es auch. Reli­gion neigt wohl immer zum Kitsch, zuweilen zeigt er sich stolz in poten­zierter Nüchternheit. Der weinrote Samtsessel sagt mir ja nicht nur, bezahl mich!, er sagt auch: Setz dich und sei friedlich!

Die Schriftstellerin Romana Ganzoni lebt in Celerina. Zuletzt erschien von ihr der Roman «Tod in Genua».