Schwerpunkt 27. November 2019, von Christa Amstutz Gafner, Hans Herrmann

«Kitsch kommt ohne Deutung aus»

Kitsch

Kunst und Kitsch lassen sich kaum trennen, und die Bibel ist eine fast kitschfreie Zone, sagt Pfarrerin Muriel Koch – bis auf den Horror-Kitsch der Offenbarung.

Besitzen Sie Gegenstände, die einfach nur kitschig sind?

Muriel Koch: Ich rede mir immer ein, es seien Souvenirs, nicht Kitschobjekte. Während eines Russlandaufenthalts habe ich ein paar bunte Erinnerungsstücke gekauft, etwa eine glitzernde Nachbildung der Moskauer Basilius-Kathedrale in Form eines Weihnachtsbaumschmucks. Auch der religiöse Kitsch in Pilgershops am Jakobsweg fasziniert mich. Vor Jahren habe ich mich dort mit allerlei Sächelchen eingedeckt, vom Ketteli aus Heiligenbildern bis zum muschelverzierten Döschen.

Warum ist das Kitsch?

Die Basilius-Kathedrale ist ja bereits im Original kitschig in ihrer zuckrigen Buntheit. Kitsch entsteht aus dem Bestreben heraus, die Realität idealisiert darzustellen, glatt, ­ohne Ecken und Kanten. Die Darstellung soll unmittelbar und emotional funktionieren. Kitsch kommt ohne Deutung aus.

Also regt die Kunst, im Gegensatz zum Kitsch, zur Reflexion an?

Meiner Meinung nach sind die Grenzen fliessend. Regen Monets ­Seerosen zur Reflexion an? Oder wollen sie einfach nur schön sein? Sie gelten als Kunst und nicht als Kitsch. Die Trennung von Kunst und Kitsch ist nicht einfach.

Der österreichische Schriftsteller Hermann Broch schrieb einmal: «Wer Kitsch herstellt, ist ein Schwein.» Einverstanden?

Nein. Die Aussage finde ich dumm. Kitsch ist Ausdruck eines echten Bedürfnisses. Man soll sich dazu bekennen dürfen, dass man Freude hat an etwas ohne Ecken und Kanten. Dahinter steckt letztlich unsere Sehnsucht nach Ungebrochenheit.

Auf den Punkt gebracht, bedeutet das: Wir brauchen Kitsch.

Ja, das sehe ich so. Sich in persönlichen Kitschzonen vom Alltag zu erholen, ist völlig in Ordnung. Ich mag Kunst. Sie bekommt aber etwas Ausschliessendes und Elitäres, wenn sie gegen Kitsch ausgespielt wird. Das möchte ich nicht. Wichtig ist, dass man sich vom Kitsch nicht vereinnahmen lässt. Ein völliges Abdriften und Eintauchen in Fantasie- und Glamourwelten entfremdet vom richtigen Leben.

Warum zeigt sich gerade das Religiöse derart anfällig für den Kitsch? Sogar stilechte Barockkirchen wirken häufig kitschig.

Die religiöse Perspektive öffnet ein Fenster zum ganz Anderen. Gerne stellt sich der Mensch das Göttliche ungebrochen und perfekt vor. Daraus erwächst der Wunsch, das Vollkommene auch vollkommen dar­zustellen: überhöht und lieber in glänzendem Gold statt nur in Gelb. Wo die Vollkommenheit vermutet wird, ist der Kitsch nicht weit.

Sind die Reformierten in ihrer Nüchternheit weniger anfällig für Kitsch als andere Konfessionen?

In unseren Kirchen sind Kanzel und Abendmahlstisch beziehungsweise Taufstein die prägenden Elemente. Der Raum dazwischen bleibt leer. Diese Leere soll sich mit der Schrift füllen, die jede und jeder selbst deuten kann. So wie es allen offensteht, ob sie sich das Göttliche goldglänzend oder gebrochen vorstellen wollen. Wir Reformierten kennen auch keine religiösen Souvenirs. Eine Ausnahme bildet die Taufe: Taufbibel, Taufkerze, Taufbäume und Taufblüten, je nach Gemeinde sind da kaum Grenzen gesetzt. Für die Kinder ist ein wenig Kitsch auch in der reformierten Tradition dabei.

Haben Sie in der Bibel schon kitschige Geschichten entdeckt?

Die Erzählungen in der Bibel sind definitiv keine Wohlfühlgeschichten, perfekte Happy Ends sucht man vergeblich. Die Geschichten irritieren, weisen Brüche auf. Wenn man wollte, könnte man vielleicht das Hohelied Salomos als kitschig bezeichnen. Die Liebesverse sind ziemlich gefühlstriefend. Und die Offenbarung des Johannes wartet mit eingängigen und drastischen Bildern auf, die allenfalls als Horror-Kitsch gelten könnten.

Und die biblische Weihnachtsgeschichte? Die Stallszene mit dem Neugeborenen in der Krippe ist doch Inspiration für vielerlei Kitsch.

Die Weihnachtsgeschichte ist ja eigentlich eine schlimme Geschichte. Sie berichtet von der beschwerlichen Reise einer hochschwangeren Frau und von einer Niederkunft in prekären hygienischen Verhältnissen. Später geht es um den von Herodes angeordneten Massenmord und die Flucht der jungen Familie.

Zugleich ist die Weihnachtsgeschichte eine der stärksten Erzählungen der Bibel, sie berührt und bewegt, bietet Raum für Entwicklungen in alle Richtungen. Gott geht an Weihnachten einen riesigen Schritt auf die Menschen zu. Er wird selbst zum Menschen, zum kleinen, unschuldigen Kind. Ein Baby ist die reine Form des Menschseins, die wir alle ein wenig vermissen und nach der wir uns immer wieder sehnen. Ich verstehe deshalb den Hype um Weihnachten gut, auch deren oft etwas kitschige Verklärung.

Viel Leute mögen es an Weihnachten festlich und gemütvoll. Dabei ist die Botschaft vom Mensch gewordenen Gott eine ganz andere. Wie gehen Sie im Gottesdienst mit dieser Spannung um?

In den ersten Jahren als Pfarrerin hat mich das tatsächlich etwas gestresst. Habe ich aus biblischer Sicht überhaupt etwas zu erzählen, was die Leute in dieser Stimmung hören mögen? Bald habe ich jedoch gemerkt: Wer an Heiligabend oder Weihnachten den Gottesdienst besucht, nimmt sich bewusst eine Auszeit vom Trubel mit der heilen Familie und dem feinen Essen und ist bereit, sich auch auf herausfordernde Aspekte der Weihnachtsgeschichte einzulassen.

Worauf zum Beispiel?

Die Umstände der Geburt und überhaupt die Familienverhältnisse waren keineswegs perfekt und heilig. Für Josef und Maria muss die Situation sehr schwierig gewesen sein. Und dem Neugeborenen steht ­eine schmerzhafte Lebensgeschichte bevor. In vielerlei Hinsicht ermöglicht Weihnachten einen positiven Blick auf das Unvollkommene. Diese befreiende Botschaft hilft auch, wenn es zu Hause am Festtisch mit der Harmonie nicht so recht klappt. Und sie kann tröstend sein für all jene, die in dieser gefühlsbeladenen Zeit besonders leiden unter schwierigen Lebensumständen.

Steht in Ihrer Kirche ein Weihnachtsbaum?

Ja, wir haben in beiden Kirchen unserer Gemeinde einen Weihnachtsbaum. Deren Dekoration gibt auch immer wieder Anlass für Kritik. Gerade bei so emotionalen Feiern wie Weihnachten reagieren die Menschen auf Veränderungen oft sen­sibel. Statt echter Kerzen werden neuerdings LED-Lichter verwendet. Das hat mit Kitsch nichts zu tun, sondern mit Brandschutz. Es ist aber auch verständlich, dass, wer im Altersheim vor dem LED-Baum sitzt, die Trauer, nicht mehr zu Hause zu leben, jetzt vielleicht besonders stark spürt.

Gibt es Weihnachtslieder, die Sie als kitschig empfinden?

«O du fröhliche» mag ich nicht. Das Lied benennt für meinen Geschmack allzu klar, wie man sich an Weihnachten fühlen soll: «Freue dich, o Christenheit!». «Stille Nacht» ist zwar auch kitschig, bringt aber das Geschehen in dieser Nacht intimer zum Ausdruck. Am liebsten ist mir das Adventslied «O Heiland, reiss die Himmel auf».

Was raten Sie einem Menschen, der angesichts des allgegenwärtigen Weihnachtskommerzes den Kitsch-Overkill hat?

Die Adventszeit hat bei allem Kitsch und Kommerz ja sehr wohl ­ihre posi­tiven Seiten. Sie bietet zum Beispiel die Chance, sich aktiver um zwischenmenschliche Bedürfnisse zu kümmern. Warum nicht mit Freunden oder Verwandten Guetzli backen oder sogar einen kitschigen Weihnachtsmarkt besuchen? Wir haben es selbst in der Hand, ob dabei der Konsum im Vordergrund steht oder die Pflege unserer Beziehungen.

Muriel Koch, 35

Die Pfarrerin in Zürich Altstetten ist delegierte Pfarrerin in der Kirchgemeinde Zürich. Koch hat in Basel und Berlin evangelische Theologie studiert, mit einem Abstecher in Religionsphilosophie nach St. Petersburg. Danach war sie Pfarrerin in Riehen und Assistentin für Praktische Theologie an der Universität Zürich, wo sie zur Konfirmationsarbeit promovierte.