Zwingli steigt am Züri Fäscht vom Sockel. Mit welcher Botschaft?
Christoph Sigrist: Wenn wir nach 500 Jahren der Reformation gedenken, gedenken wir einer Diskussionskultur auf Augenhöhe. Dafür steht jedes Selfie, das am Fest mit dem vom Sockel gestiegenen Reformator gemacht wird.
Danach vervielfältigt sich Zwingli und begibt sich in die Quartiere. Dort finden unterschiedliche Veranstaltungen statt.
Die Vermehrung ist vergleichbar mit Propheten oder Engelsboten, die sich in die zwölf Stadtkreise begeben und den Menschen zuhören, warum es ihnen den Hut lupft, was sie beschäftigt. Theologie und Glauben brauchen den öffentlichen Raum. Das war für Zwingli konstitutiv. Er benötigte den Kirchenraum, um herauszufinden, was Sache ist. Dieser Kirchenraum weitet sich nun 500 Jahre später aus auf die ganze Stadt.
Nimmt Zwingli auch sein Schwert mit?
Das lässt er meistens bei der Wasserkirche. Es steht für den Kulturkampf, der im multireligiösen Zürich Gott sei Dank überwunden ist. Den neu gegossenen Zwingli-Figuren wird anstelle des Schwerts ein Gegenstand in die Hand gegeben, der etwas mit dem jeweiligen Ort zu tun hat. Am Tessinerplatz zum Beispiel, wo in unmittelbarer Nähe zur Israelitischen Cultusgemeinde Judentum und Reformation thematisiert werden, hält er die Bibel in der einen und die Thora in der anderen Hand. Ein wunderbares Bild.
Die Bibel hat Zwingli immer dabei?
Ja. Sie ist der rote Faden.
Es geht also um mehr als um Quartierpolitik?
Aufgabe der Veranstalter der in den Quartieren ist es, die Bibel ins Gespräch zu bringen. Quartierpolitische Fragen sollen dennoch diskutiert werden. Oder gerade deswegen. Denn die Reformation hat den Blick eindeutig in die toten Winkel der Stadt gelenkt. Normativ für reformierte Theologie ist die Situation der Armen. Deshalb ist sie politisch.
Das Projekt kostet über 300 000 Franken. Das passt schlecht zu einer Theologie, welche die Armut in den Blick nimmt.
Da haben alle kritischen Leserbriefschreiber recht. Dieser Widerspruch hat mich an meiner eigenen Idee auch gestört. Einerseits bemühte ich mich um private Sponsoren und Mäzene, damit die reformierte und die katholische Kirche die Kosten nicht alleine tragen müssen. Andererseits werden die Zwingli-Figuren diakonisch gewaschen und für einen sozialen Zweck versteigert. Wir machen am Ende der Aktion das Gleiche wie die Reformatoren, die den kultisch verehrten Prunk aus den Kirchen entfernt und zugunsten der Armen verkauft haben.
Selfies mit Zwingli, der Sechseläuten-Böögg mit Zwinglihut: Wann ist die Grenze zum Sauglattismus überschritten?
Auch Zwingli kann man aus heutiger Perspektive Sauglattismus vorwerfen, weil er dem Wurstessen beiwohnte. Er brauchte die Inszenierung, um seine Botschaft zu platzieren. Ich habe von Zwingli gelernt, dass ich mich dem Vorwurf des Sauglattismus aussetzen muss, wenn ich die Botschaft vom Christsein in die Öffentlichkeit hineinsetzen will. Der Prophet Jeremiah hat mitten auf dem Marktplatz einen Tonkrug zerschmettert. Das kann man als Sauglattismus abtun, er verband die Handlung aber mit einem prophetischen Wort.
Drang das prophetische Wort durch am Sechseläuten?
Ich habe einen Flyer erhalten für eine Predigtreihe in einer Zürcher Kirchgemeinde: «Em Zwingli lupfts de Huet – prophetische Texte». Und in den Quartieren, in denen die Zwingli-Figuren präsent sein werden, dient das Motto «Em Zwingli lupfts de Huet» als Türöffner für Diskussionen und Veranstaltungen. Der Sozialethiker Hans Ruh setzte sich mit einem Zwinglihut auf dem Kopf auf die Intercity-Toilette, um gegen die Streichung einer Zulage für das Putzpersonal zu protestieren. Der «Blick» schrieb darüber, die SBB mussten zurückrudern. Solche Beispiele sind wunderbare Verifikationen, dass die Botschaft durchdringt.
Mit einem lustigen Selfie ist noch keine Botschaft verbunden.
Die Kirche muss die Menschen dort abholen, wo sie sind. Das ist ihr Auftrag. Neben dem für die Selfies vom Sockel geholten Zwingli ist der Jugendtreff des Grossmünsters, der den Öko-Zwingli konzipiert hat, eine der zwölf gegossenen Figuren. Der Jugendtreff will mit den Festbesuchern ins Gespräch kommen. Der Öko-Zwingli ist verspiegelt. Das finde ich eine grossartige Idee: vom Selfie zum Spiegel. Also vom Genuss und vom Tourismusphänomen hin zur Reflexion und zur Frage nach der eigenen Verantwortung für den Klimawandel.
Zugleich können die Festbesucher eine Zwingli-Wurst essen, obwohl klar ist, dass der Fleischkonsum eingeschränkt werden müsste, um den Klimawandel zu bekämpfen.
Das Wurstessen führt zu den brennenden Punkten des Kircheseins hin. Das war auch vor 500 Jahren so. Natürlich ist die Klimadebatte von Doppelmoral geprägt. Wir fliegen billig in die Ferien und beklagen uns über die untätige Politik. Aber Festfreude und Verzicht schliessen sich nicht aus. Auch da können wir bei Zwingli anknüpfen, der gerne in der Wirtschaft gefestet und trotzdem glaubwürdig die Armut bekämpft hat.
Wir müssen also nicht verzichten?
Doch. Die Antwort der Bibel lautet immer: Verzichte.
Worauf?
Auf alles, was wir nicht unbedingt brauchen und anderen Menschen schadet.
Dann müssen wir also doch auf das Festen verzichten oder zumindest ein schlechtes Gewissen haben dabei.
Nein. Festen ist nötig. Dafür steht zum Beispiel die Geschichte von Jesus am Hochzeitsfest in Johannes 2. Am anderen Ende steht die Bergpredigt mit ihrer radikalen Vision göttlicher Gerechtigkeit. Beide Texte sind Ellipsen im gleichen Raum.
Zwingli steht heute mehr für den Verzicht und die Zucht als für das Fest.
Der Zwinglianer vielleicht, Zwingli hat gerne gefestet. Entscheidend für ihn war das richtige Mass, sowohl beim Festen als auch beim Verzicht. Diese Haltung gründete in der antiken Philosophie der Stoiker. Zwingli war ein Pragmatiker und lehnte extremistische, fundamentalistische Positionen ab.
Trotzdem wurden im reformierten Zürich die Täufer brutal verfolgt.
Zwingli war in zwei Fragen nicht immun gegen Fundamentalismus, weil er ein Kind seiner Zeit war. Eine Nation war für ihn nur mit einer einzigen Religion vorstellbar. Und wenn jemand anders glaubte als das Volk, musste er verurteilt oder gar getötet werden. Das ist zum Glück vorbei.
Eine Zwingli-Figur fährt an der Streetparade mit. Warum?
Die Streetparade kam auf mich zu. Sie wollte nach dem Zwingli-Film ein Zeichen setzen im Reformationsjahr mit einem ökumenischen Gottesdienst kurz vor dem Beginn der Parade. Er findet nun in der Wasserkirche statt. Zudem wollten die Organisatoren die Verbindung zum Zwinglijahr auch an der Streetparade selbst sichtbar machen.
Biedert sich die Kirche damit nicht bei Leuten an, die mit Kirche eigentlich nichts am Hut haben?
Mit Anbiederung hat das überhaupt nichts zu tun. Offensichtlich hat die Kirche bei diesen Menschen eine Resonanz. Es ist die Aufgabe der Kirche, darauf zu reagieren. Das Grossmünster gehört wie das Fraumünster zur Stadtsilhouette von Zürich. Es kann gar nicht nicht kommunizieren.
Aber die Kirche muss doch Grenzen ziehen, um nicht vereinnahmt zu werden.
Die Kirche muss sich auf einen Dialog einlassen, wenn sie angefragt wird. Es geht hier nicht darum, ob ich mich persönlich wohl fühle an der Streetparade. Es geht darum, dass die Organisatoren der Streetparade offensichtlich etwas erwarten von der Kirche und die Reformation thematisieren wollen. Wir Pfarrerinnen und Pfarrer müssen den Mut haben, von unseren Kanzeln zu steigen, wenn wahr sein soll, was wir ein Reformationsjubiläum lang gepredigt haben: dass sich die Kirche erneuern muss.
Damit verlieren die Pfarrerinnen und Pfarrer die Kontrolle.
Genau. Es ist arrogant zu sagen, die Streetparade sei kulturell zu wenig hochstehend für die Kirche oder Selfies seien doof. Auf der Gasse wird anders von Gott geredet als auf der Kanzel. Wenn wir die Kirchenräume öffnen und hinausgehen in die Stadt, müssen wir das ohne Angst und ohne Arroganz tun. Und ja, dann verlieren wir die Kontrolle, weil wir nicht mehr die Deutungshoheit besitzen, was Theologie ist. Vielleicht entsteht ja auch aus einem Selfie ein theologischer Gedanke.
Gilt das auch für Ihr Projekt, das Sie nun loslassen müssen?
Das ist das Faszinierende daran: Ich habe nicht im Griff, was mit den Zwinglis in den Quartieren passiert. Aber die Reformatoren hatten die Reformation auch nicht im Griff. Zwingli hat die Bibel aus dem Weihrauchdunst hinter dem Altar in den Kirchenraum geholt. Er hat sie im öffentlichen Diskurs übersetzt. Damit verlor die Kirche ihre Autorität. Sie konnte nicht mehr entscheiden, welche Bibelstellen die Menschen lasen. Nun wird der Kirchenraum erweitert, die Bibel geht hinaus in die Stadt. Wie während der Reformation werden die Menschen selbst ermächtigt, über Kirche und Glauben nachzudenken.