Kennen Sie Kyudo? Das ist eine von ganz vielen Formen des Bogenschiessens. Sie stammt aus Japan und ist uralt: Zwar war auch der japanische Bogen selbstverständlich eine Jagd- und Kriegswaffe, doch bereits im 8. Jahrhundert wurde Kyudo – der Weg des Bogens – bei zeremoniellen Anlässen ausgeübt.
Zusammen mit der Schwertkunst gehörte Kyudo zur Grundausbildung der Samurai. Mit dem Aufkommen der Feuerwaffen verlor das Bogenschiessen anfangs des 19. Jahrhunderts endgültig seine kriegerische Bedeutung. Es wurde zur Disziplin, die Körper und Geist fördert. Alle Haltungen und Bewegungen entsprechen Vorschriften.
Der Weg des Bogens führt nach innen
Das Kyudo reicht so – wie fast jede Kampfkunst – über den blossen Sport hinaus. Sind die Basisbewegungen gelernt, beginnt die lange persönliche Suche nach innerer Harmonie und zusammen mit den anderen.
Der Autor Paulo Coelho hat mit dem Büchlein «Der Weg des Bogens» das japanische Bogenschiessen eingängig in Sprache verdichtet und mit einer Geschichte umrahmt. «Vielleicht glaubst du, Bogenschiessen könnte weder einen Bäcker noch einen Bauern interessieren, aber ich sage dir: Sie gehen bei ihren täglichen Verrichtungen den Weg des Bogens», schreibt er im Kapitel «Die Verbündeten».
Einfachheit ist die Haltung
Eleganz sei erreicht, wenn alles Überflüssige abgelegt ist – wie der Schnee, der erst mal schön ist, weil er einfach nur weiss ist. Aber er ist auch tief und noch viel mehr. Die angestrebte maximale Einfachheit bedeutet auch, dass nicht nur die äussere, sondern auch die innere Haltung entscheidend ist. «An einem Tag, an dem dir die Liebe zum Leben fehlt, wird dein Schuss ungeordnet und unnötig kompliziert sein.» Das gilt im Übrigen nicht nur für Kyudo, sondern für jede Art von Bogenschiessen.
Zwar pflege ich es selbst noch nicht lange – und auch nicht Kyudo, sondern so genannt olympisches Bogenschiessen mit Visier und Stabilisator. Aber als ich diese Worte las, die von aussen etwas kalenderblattmässig wirken können, dachte ich: Genau so hätte ich es auch formuliert.
Und so langweilig Bogenschiessen wirken kann – Ziel ist schliesslich, den Vorgang möglichst genau gleich immer und immer wieder wiederholen zu können –, so spannend macht es gerade das: Zu üben, zu üben, zu üben. Bei jedem Pfeil zu merken, was gerade ist. Und im besten Fall ist es nach dem Loslassen des Pfeils wirklich so, wie Coelho über den Bogenschützen schreibt: «... sein Herz ruht sich aus, und er lächelt.»
Niemand ist zu alt dafür
Also: Bogenschiessen ist viel mehr, als Pfeile auf ein Ziel zu schiessen. Muskulatur, Konzentration, Achtsamkeit und Körpergefühl werden beansprucht. Es kann verhelfen zur Ausgeglichenheit von Körper, Geist und Seele. Das unabdingbare Zusammenspiel von höchster Spannung und Konzentration mit grösster Lockerheit, Entspannung und Loslassen kann geradezu süchtig machen.
Und wenn Sie denken: «Ach, ich bin zu alt, das geht doch nicht mehr.» Dann täuschen Sie sich wahrscheinlich. Klar, die Arme bewegen zu können ist ein Vorteil. Kraft brauchen sie aber keine. Es gibt Bögen mit kleinstem Zuggewicht. Querschnittgelähmte schiessen auf höchstem Niveau. Einfach bloss zu alt zum Bogenschiessen ist kein Mensch. Wenn es Sie Wunder nimmt: Versuchen Sie es einfach mal. Sie können nichts verlieren, nur gewinnen.