Spezial 24. Dezember 2020, von Katharina Kilchenmann

«Ich steh an deiner Krippen hier» - Kirchenlied mit Tiefgang

Adventskalender 24

Er erlebte Krieg, Seuchen, Glück und Tod: der Theologe Paul Gerhardt. Seine geistlichen Gedichte berühren bis heute und lassen erahnen, was es hiess im 17. Jahrhundert zu leben.

«Ich steh an deiner Krippen hier», das Lied mit dem Text von Paul Gerhardt in der Vertonung von Johann Sebastian Bach ist im Kirchengesangbuch zu finden. Ganz besonders die zweite Strophe lässt die sprachlichen Fähigkeiten und tiefe Menschlichkeit des Texters erahnen:

«Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren, und hast mich dir zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren. Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden.»

Das Neugeborene steht über der Zeit. Der scheinbar machtlose kleine Mensch steht für die Lebendigkeit an sich. Und für das Band zu Gott, das schon vor unserer Geburt geknüpft wurde.

Leben während des Dreissigjährigen Krieges

Paul Gerhardts Leben war - wie man heute sagen würde - filmreif. 1607 wurde er in Gräfenhainichen in Sachsen-Anhalt in eine Gastwirtsfamilie hinein geboren. Bald schon litten die Menschen dort unter den Folgen des Dreissigjährigen Krieges (1618-48): Hungersnöte, Seuchen, Übergriffe durch Soldaten.

1619 starb Pauls Vater, zwei Jahre darauf seine Mutter. Trotzdem konnte der junge Mann eine Schule besuchen und später in Wittenberg Theologie studieren. Doch auch hier grassierte der Krieg und 1936 auch die Pest. In Berlin, wo nach dem Krieg, einer Pocken- und Ruhrseuche noch knapp die Hälfte der Bevölkerung lebte, fand der frischgebackene Pfarrer eine Stelle.

Dort fing er auch an, seine Erlebnisse und seine Gefühle in Liedtexten zu verarbeiten. Als Theologe war er hoch geschätzt, heiratete spät noch, zeugte fünf Kinder, von denen vier starben, verlor bald schon seine viel jüngere Frau und starb 1676 in grosser Armut. Seine unzähligen Kirchenlieder, so etwa auch «Geh aus mein Herz und suche Freud» oder «Befiehl du deine Wege» haben ihn bis heute überdauert.

Lieder von der Vergänglichkeit

In Gerhardts Liedern klingt jenes barocke Lebensgefühl der Vergänglichkeit und des Hineingeworfenseins in eine Welt, die man ohne Spuren zu hinterlassen wieder verlässt. Auch wir suchen einen Weg durch die Anforderungen unserer Zeit, navigieren etwa durch die aktuelle Krise.

Nur haben wir, im Gegensatz zu den Menschen im 17. Jahrhundert, Desinfektionsmittel, Masken und ärztliche Versorgung. Auch das gibt keine Garantie zu überleben, aber immerhin eine gute Chance.

Der «reformiert.»-Adventskalender 2020

Anregendes, Schönes und Überraschendes finden Sie im diesjährigen Adventskalender. In der Dezember-Ausgabe der Zeitung erscheint auf einer Seite eine handverlesene Auswahl von kleinen Appetitmachern in Text und Bild – für jeden Tag im Dezember bis zu Weihnachten. Diese Häppchen können sich auf ein Lied beziehen, ein Buch, ein Objekt, eine Tätigkeit, etwas Kulinarisches oder etwas zum Schauen.

Hier können Sie das PDF der Zeitungsseite herunterladen.

Auf der Website erfolgt jeweils die Auflösung: Jeden Tag öffnet sich ein neues Türchen, in dem wir die ausgewählte Kostbarkeit mitsamt ihrer Geschichte präsentieren. Sie finden die Türchen immer hinter der URL reformiert.info/advent1, /advent2, /advent3 und so weiter. Lassen Sie sich überraschen und inspirieren!

Ich steh an deiner Krippen hier

Ich steh an deiner Krippen hier,
o Jesu, du mein Leben;
ich komme, bring und schenke dir,
was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel und Mut, nimm alles hin
und laß dir's wohlgefallen.

Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren
und hast mich dir zu eigen gar,
eh ich dich kannt, erkoren.
Eh ich durch deine Hand gemacht,
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden.

Ich lag in tiefster Todesnacht,
du warest meine Sonne,
die Sonne, die mir zugebracht
Licht, Leben, Freud und Wonne.
O Sonne, die das werte Licht
des Glaubens in mir zugericht',
wie schön sind deine Strahlen!

Ich sehe dich mit Freuden an
und kann mich nicht satt sehen;
und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O daß mein Sinn ein Abgrund wär
und meine Seel ein weites Meer,
daß ich dich möchte fassen!

Wann oft mein Herz im Leibe weint
und keinen Trost kann finden,
rufst du mir zu: "Ich bin dein Freund,
ein Tilger deiner Sünden.
Was trauerst du, o Bruder mein?
Du sollst ja guter Dinge sein,
ich zahle deine Schulden."

O daß doch so ein lieber Stern
soll in der Krippen liegen!
Für edle Kinder großer Herrn
gehören güldne Wiegen.
Ach Heu und Stroh ist viel zu schlecht,
Samt, Seide, Purpur wären recht,
dies Kindlein drauf zu legen!

Nehmt weg das Stroh, nehmt weg das Heu,
ich will mir Blumen holen,
daß meines Heilands Lager sei
auf lieblichen Violen;
mit Rosen, Nelken, Rosmarin
aus schönen Gärten will ich ihn
von oben her bestreuen.

Du fragest nicht nach Lust der Welt
noch nach des Leibes Freuden;
du hast dich bei uns eingestellt,
an unsrer Statt zu leiden,
suchst meiner Seele Herrlichkeit
durch Elend und Armseligkeit;
das will ich dir nicht wehren.

Eins aber, hoff ich, wirst du mir,
mein Heiland, nicht versagen:
daß ich dich möge für und für
in, bei und an mir tragen.
So laß mich doch dein Kripplein sein;
komm, komm und lege bei mir ein
dich und all deine Freuden.

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