Da war dieses Lesebuch mit Erscheinungsjahr 1972: aussen quadratisch und weiss, innen prallvoll von spannenden, anregenden und oft auch heiteren Kurzgeschichten. Es war das Lesebuch, das wir in der fünften Klasse hatten, wenn ich mich recht erinnere. Die fünfte Klasse liegt längst hinter mir, aber dieses mit ausdrucksstarken Zeichnungen des Künstlers Hugo Wetli illustrierte Lesebuch, das ist mir jahre- und jahrzehntelang nicht aus dem Sinn gegangen. Leider hatte ich es seinerzeit abgeben müssen.
Hin und wieder suchte ich im Internet nach dem Verbleib dieses längst aus dem pädagogischen Verkehr gezogenen Bands, jedoch vergebens. Bis ich eines schönen Tages bei der Inhaberin eines Schoko-Ladens in Burgdorf darauf zu sprechen kam, weil ich wusste, dass sie früher als Lehrerin an der Volksschule tätig gewesen war.
Volltreffer! Sie wisse genau, welches Buch ich meine, sagte sie. Zwei Exemplare befänden sich in ihrem Besitz, eines davon dürfe ich haben. Glücklicher als ich war an diesem Tag wohl niemand. Zu Hause schlug ich das geschenkte Buch auf und tauchte selig ein in die Zeit von damals, als sich mir die fantastische Welt des Lesens so richtig erschloss und ich dabei einen Schatz fürs Leben gewann.
Der erste Text, den ich mir bei diesem freudigen Wiedersehen zu Gemüt führte, war eine augenzwinkernde Geschichte des deutschen Germanisten, Autors und Pädagogen Karl Hochmuth (1919 – 2002). Sie lautet so:
Die Suppensteine
In einer Zeit, als die Not auf den Menschen lastete wie ein trübes Gespenst und der Hunger durch alle Gassen wehte, kam einmal ein Soldat in ein abgelegenes Dorf. Er war aus Russland heimgekehrt und erzählte den Leuten wunderliche Dinge. Dann zog er plötzlich drei glatte Steine aus der Tasche, legte sie in einen Topf, goss Wasser darauf und begann ein Feuer zu machen.
Die Leute umstanden ihn und wunderten sich, und schliesslich fragten sie ihn, ob er sich von den Steinen wohl eine Suppe kochen wolle. Der Soldat nickte ernsthaft und fuhr fort, das Feuer anzublasen, und sagte so nebenbei: «Das hat mich ein alter Kirgise gelehrt; es wird eine ausgezeichnete Suppe, so gut, wie ihr noch keine gekostet habt.»
Die Leute schüttelten die Köpfe und reckten die Hälse, und der Soldat blies ins Feuer und sagte: «Die Suppe heisst Krotopikopischin. Sie schmeckt wunderbar. Und wenn zufällig einer von euch eine Rübe hat oder eine Kartoffel oder ein Stückchen Fleisch, dann wird sie die allerbeste Suppe der Welt.»
Die Leute brachten ihm bereitwillig Fleisch und Rüben und Kartoffeln, und er schnitt alles zusammen und warf es in den Topf. Die Suppe schmeckte wirklich ganz ausgezeichnet, und der Soldat liess alle davon kosten und wurde selbst auch noch satt. Dann holte er seine Suppensteine aus dem Topf, steckte sie in die Tasche und zog weiter. Am Ende des Dorfes drehte er sich nochmals um und winkte den Dorfbewohnern zu, die an der Strasse standen und ihm nachstarrten.