Kampf gegen Organmangel weckt ethische Bedenken

Medizin

Eine Volksinitiative will, dass alle sich entscheiden, ob sie einer Organspende zustimmen oder nicht. Ist das ethisch vertretbar?

Wer seine Organe spenden will, kann sich in dem nationalen Organspende-Register eintragen lassen, das die Stiftung Swiss­transplant betreibt. Wer dort nicht registriert ist und auch keine Spendekarte auf sich trägt, die eine Organentnahme erlaubt, gilt als Nicht-Spender. Das Komitee für die Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten», die im März eingereicht wur­de, will nun die sogenannte «Widerspruchslösung» einführen. Künftig gälten grundsätzlich alle Menschen als Organspender, es sei denn, sie haben sich dagegen entschieden und dies im Spenderegister festgehalten. In anderen Ländern wie in Österreich, Frankreich, Italien, Spanien oder Polen ist diese Regelung bereits in Kraft.

Viel zu wenig Spendeorgane

Die Initiative kommt frühestens 2022 vor das Volk, wenn sie nicht vorher zurückgezogen wird. Dazu könnte es kommen, wenn der Bundesrat auf ihre zentrale Forderung eintritt und mit einer neuen Rechtsgrundlage den Organnotstand bekämpft. Obwohl im letzten Jahr ein neuer Spendenrekord erreicht wurde, stehen immer noch zu wenige Organe zur Verfügung. Ende 2018 standen über 1400 Patientinnen und Patienten auf der Warteliste. Julien Cattin, Präsident des Initiativkomitees, ist überzeugt, dass die stillschwei-gende Zustimmung die Warteliste verkürzen kann, ohne die individuelle Entscheidungsfreiheit zu gefährden. Wer nicht spen­­den wolle, bleibe geschützt. «Je­der kann seinen Entscheid verbindlich festhalten», sagt Cattin.

Franz Immer, Direktor der Stiftung Swisstransplant, unterstützt die Initiative. Ein Grund für den Or­ganmangel sei die fehlende Willens­äusserung. «Nur wenige Menschen regeln, was nach dem Tod mit ihren Organen geschehen soll.» Dabei seien laut einer Umfrage über 80 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer grundsätzlich bereit, Organe zu spenden. Lediglich 15 Prozent hätten sich klar dagegen ausgesprochen. «Daher ist es wichtig, dass sich mög­­lichst viele Menschen mit der Frage befassen und im Register ihren Willen hinterlegen.»

Integrität auf dem Spiel

Dass Schweigen Zustimmung be­deu­ten soll, sei ethisch unhaltbar, sagt die Theologin und Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle. «Sind alle, die nicht zu Lebzeiten widersprochen haben, automatisch Spender, nimmt man in Kauf, dass auch Menschen Organe entnommen werden, die das nicht wollten.» Und Bau­mann-Hölzle fragt nach jenen, die sich nicht informieren können: Bil­dungs­ferne, Urteilsunfähige, Menschen mit geistiger Behinderung oder geringem Sprachverständnis. Baumann-Hölzle hält das Prinzip «im Zweifel für die Entnahme der Organe» auch aus staatspolitischer Sicht für hoch-problematisch: «Die Bür­gerinnen und Bürger wären vor ­ei­ner massiven Instrumentalisierung nicht mehr geschützt.»

Diese Automatisierung kritisiert die Ethikerin «als ethische Grenzüber­schrei­tung, welche die Integrität der Menschen aufs Spiel setzt». Swisstransplant-Direktor Franz Immer widerspricht: Um eine «automa-tische Organentnahme» gehe es keineswegs. Angehörige hätten bei der Widerspruchslösung ein Vetorecht. «Sie können die Entnahme stoppen, wenn sie bezweifeln, dass sie dem Willen des Verstorbenen entspricht.» Im Initiativtext findet Bau­mann-Hölzle allerdings keinen Hinweis auf die­se Möglichkeit.

Moralisch hochgerüstet

Der Ethiker Frank Mathwig beharrt auf dem Recht, sich nicht mit der Organspende zu befassen. «Sich dafür oder dagegen entscheiden zu müssen, schränkt die grundrechtliche Freiheit, die eigene Meinung zu äussern oder zu verschweigen, emp­findlich ein», hält er im Po­si­­tions­­­papier des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds fest.
Die moralisch hochgerüsteten Organspendekampagnen würden zunehmend den Eindruck vermitteln, der tote Kör­per gehöre der Gemeinschaft, kritisiert Mathwig. «Solidarität und Empathie in der Gesellschaft bedeutet nicht, dass wir uns gegenseitig unsere Organe schul­den.» Katharina Kilchenmann