Eine überraschende Seligpreisung aus Jesu Mund: Doch nicht etwa ein Lob auf die Dummheit? Das griechische Wort meint Kinder, Unmündige, Ungebildete; die ohne Stimme, ohne Wort. Jesus würdigte sie: Diesen Unbedarften mochte es an Wissen fehlen, doch nicht an Weisheit. Wo es um Gott und die wesentlichen Zusammenhänge des Lebens geht, öffnen sich den Unverbildeten direktere Zugänge als jenen, die ihren Intellekt anstrengen. Sie gehen es unbeschwerter an, sie lassen sich darauf ein, statt es zu analysieren und zu beurteilen. In jenen neuen Seinszustand hineinzufinden, den Jesus das «Reich Gottes» nannte, gelingt also eher durch schlichtes Lassen als durch kluges Analysieren.
Jesus wusste um den Zusammenhang von Bildung und Einbildung. Geschulte Köpfe laufen Gefahr, die konstruierte Wirklichkeit für die einzig wahre zu halten. Sie gewinnen durch ihr Wissen Sicherheit und Kontrolle, verfallen aber leicht in intellektuelle Arroganz. Jesus war nicht der erste Weisheitskritiker, er konnte sich auf eine alte jüdische Tradition berufen. So findet sich im Jesajabuch etwa der verblüffende Vers 29,14. Weil ihre Gottesbeziehung nur «angelernt» sei, sprach Gott: «Ich werde an diesem Volk weiterhin wundersam handeln, wundersam und überraschend, und die Weisheit seiner Weisen wird zunichte werden, und der Verstand seiner Verständigen wird sich verstecken.»
Genau in dieser Linie brachte Jesus seinen Spruch an: Gott ist am Wirken, er zieht den Vorhang weg, er enthüllt das Wahre und Ewige – aber wer sich wissend wähnt, wer nicht empfänglich und bedürftig und in der Einfachheit des Herzens empfängt, der hat wohl kluge Gedanken über das Leben, aber er schmeckt und kostet es nicht.
Die Kritik an der Weisheit zeigt sowohl bei den Propheten als auch bei Jesus eine herrschaftskritische Haltung, denn die Gebildeten hoben sich gern von der Masse ab, errangen Machtpositionen und scheuten auch vor Rechtsverdrehung und Lüge nicht zurück. Wissen, gepaart mit Macht, war schon immer anfällig für Korruption. Gottes Weisheit ist gemäss Jesus keine, die gelernt oder ausgedacht werden kann, sie erschliesst sich intuitiv. Für uns vernünftige und kopflastige Menschen des Westens gilt leider noch immer Goethes (1749–1832) Einsicht: «Die Menschen verdriesst’s, dass das Wahre so einfach ist.»