Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben – welchen Dank erhaltet ihr dann? Denn auch diejenigen, die Unrecht tun, lieben die, die sie lieben. (Lk, 6,32)
Jesus stellte fest, dass alle Menschen lieben; alle sind auf Liebessuche, alle verschenken welche. Als Kenner der Motivation menschlichen Handelns sprach er die darunter verborgene Bedürftigkeit an: Die meisten lieben, um wiedergeliebt zu werden. Sie sichern sich durch eine Art Tauschgeschäft das, wovon sie das Gefühl haben, zu kurz gekommen zu sein.
Offensichtlich wollte Jesus seinen Freunden und Freundinnen eine andere Liebe näher bringen. Eine Liebe, bei der «charis» herausschaut. Dieses griechische Wort kann mit «Dank» übersetzt werden, aber auch mit «Geschenk», «Gnade» oder «wohlwollender, freiwilliger Zuwendung». Richtig lieben geht über das Wie-du-mir-so-ich-dir hinaus, es geschieht absichtslos, es präsentiert dem anderen keine Rechnung. Jesus anerkannte gewiss die emotionale Art zu lieben: Jeder Mensch mag die am meisten, die auch ihn mögen. Aber die Liebe, die ihm vorschwebte, zielt auf etwas Grösseres. Sie dehnt sich in eine allumfassende, eine göttliche Weite aus. Erst eine solch uneigennützige Liebe ist fähig, das Gegenüber weiterhin zu lieben, auch wenn es bockt, verletzt, angreift oder kalt bleibt. Erst wer jene Art zu lieben erfasst, liebt den anderen trotz und mitsamt all seiner Unvollkommenheit. Erst auf diese Weise wird schliesslich Feindesliebe möglich.
Wie gelangt ein Mensch in derartige Freiheit? Jesu Antwort findet sich in Vers 36: «Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.» Jeder selbstlosen Liebe geht die Erfahrung voraus: Du wirst bereits geliebt. Gottes ungeteilte Bejahung ist eine Verwandlungskraft, die dein wahres Wesen «hervorliebt». Dieses göttliche Ja ist kein berauschendes Erlebnis, eher eines, das beschämt und brutale Ehrlichkeit verlangt; es kommt einer Ergebung gleich, die zunächst nackt und demütig macht. Nichts anderes fällt einem Menschen ja derart schwer zu glauben, als dass er ein geliebtes Wesen ist! Dieser einladende, gütige Blick will jeden Menschen ermutigen, zunächst sich selbst für liebenswert zu halten, so wie er gerade ist, grundlos, aus lauter «charis» eben. Erst durch diese tiefste Anerkennung kann die neurotisch gefärbte Liebessucht einer Sättigung weichen. Ruhe stellt sich ein, wahre Stillung. Und die Einsicht tut sich auf, dass die «Barmherzigkeit des Vaters» einer universellen Liebe gleichkommt, an welcher jeder Mensch empfangend und gebend Anteil hat.