Mit dieser Aufforderung sagte Jesus nichts Neues an, sondern wärmte für seine Zuhörer eine weisheitliche Regel auf, die schon im alten Ägypten, in Persien, Indien oder Griechenland bekannt war. Jesus hatte offensichtlich nicht den Anspruch, das Zusammenleben neu zu erfinden. Er hatte es auch nicht nötig, sich gegen Weisheitslehrer vor ihm abzugrenzen, nur um sein eigenes Licht umso heller erstrahlen zu lassen. Er übernahm mit dieser Aufforderung etwas aus dem religiösen Traditionsstrom, das er für bedeutsam hielt, und drückte damit aus: Ihr kennt das auch schon, meine Zuhörer. Ihr wisst es doch längst. Also tut es um Himmels willen!
Die zeitgenössische Anweisung, die Jesus im Ohr hatte, steht im Buch Tobit (4,16) – in einer Weisheitsschrift aus dem 2. Jahrhundert. Sie wurde später Teil des katholischen und orthodoxen Bibelkanons: «Was du verabscheust, tu keinem anderen an!» Kürzer lässt sich ein moralisches Prinzip kaum auf den Punkt bringen, darum wird es später die «goldene Regel» genannt, die Quintessenz jeder gelingenden Begegnung. Der deutsche Religionsforscher Martin Bauschke bezeichnet diese Regel gar als «unser moralisches Weltkulturerbe».
Allerdings formulierte Jesus die Regel positiv um. Es ging ihm nicht um das Was-du-nicht-willst-das-man-dir-tu, sondern um das, was eben gerade wünschenswert wäre, getan zu werden. Dazu ist mehr Einfühlung gefragt. Wie begegne ich jemandem auf Augenhöhe, ebenbürtig und mit Respekt? Das menschliche Zusammentreffen wird dann für beide Seiten zum Gewinn, wenn beide Parteien gut an sich selber denken und gleichzeitig auch gut an das Gegenüber. Ich darf und soll meine eigenen Bedürfnisse kennen und gleichzeitig die des anderen ebenso ernst nehmen.
Kant versuchte 1785 mit der Gesetzesformel des «Kategorischen Imperativ» die allzu subjektive Wertung in der goldenen Regel zu eliminieren: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.» Was hätte Jesus ihm wohl erwidert? Klug, Immanuel, sehr vernünftig! Aber verstehen die Menschen das auch? Lass die Handlungsanweisung doch einfach so stehen, schlicht und nachvollziehbar für jeden. Jeder Mensch, unabhängig von seiner Bildung, seiner Religion oder seinen konkreten Überzeugungen, kann diesen imaginären Rollentausch vornehmen: Wie hätte ich es gern, dass der andere mir entgegenkommt, mich wahrnimmt und auf mich eingeht?