Notre Dame und die Schrift auf dem Boden

Schlusspunkt

Bestürzung, Solidarität, Moraldebatte, Vergessen. Der Brand der Notre Dame entfachte eine kleine Diskussionsgeschichte im Schnelldurchlauf.

Das ging ja mal wieder schnell: Betroffenheit, Kritik, Moraldebatte. Das volle Programm in Liveticker-Geschwindigkeit. Die Notre Dame war kaum gelöscht, als eine Milliardenspende für den Wiederaufbau beisammen war. Sofort entbrannte der Streit darüber, ob das viele Geld nun die unge­brochene Faszination der Menschen für Kirchenräume in säkularen Zeiten beweise, oder ob die Welt vielmehr schon derart verkommen sei, dass Vermögen lieber in tote Steine investiert werden als in Hilfsprojekte für lebendige Menschen. Natürlich galt es, sich möglichst rasch für eine Seite zu entscheiden: Daumen hoch oder runter? Trauer um ein religiös aufgeladenes Kulturgut oder moralische Entrüstung?

Postpubertäre Reflexe

Nun halte ich mich nicht für besonders meinungsfaul. Ich dis­kutiere gerne. Und nur schwer kann ich meinen postpubertären Impuls unterdrücken, im Zweifel das Gegenteil zu behaupten. Deshalb habe ich die Milliardenspende für die Kathedrale im Herzen von Paris wortreich verteidigt, weil wir die verschwenderische Grösse des Kirchenraums doch so nötig haben in einer durchrationalisierten Welt. Zugleich habe ich mit reformatorischem Eifer den Geldadel von heute getadelt, der in bester Ablasstradition seine Milliardengewinne kurzentschlossen für eine Prunkkirche hergibt und den Hunger notleidender Menschen ungestillt lässt.

Solche Diskussionen erfordern Vertrauen. Ich will nicht Gefahr laufen, auf eine Aussage behaftet zu werden. Ich brauche die Sicherheit, Zuspitzungen zurücknehmen, Argumente erproben und Selbstgerechtigkeiten zugeben zu können. Ein Küchentisch oder eine Beiz sind gute Orte dafür. Die Kommentarspalten in den sozialen Medien sind es nicht. Dort fühle ich mich dazu gedrängt, mich für eine Gruppe zu entscheiden: die Traurigen, die Kritiker, die Zyniker. Das Netz vergisst bekanntlich nicht.

Jesus inspiriert

Ich staunte, wie rasch sich die Lager gebildet hatten. Und mir kam das Bild von Jesus in den Sinn, wie er sich bückt und stumm auf die Erde schreibt (Joh 8,6–8). Nun geht es – im Gegensatz zur Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin – in der Diskussion über den Wiederaufbau der Notre ­Dame zum Glück nicht um Leben und Tod. Aber das Bild inspiriert dazu, sich nicht vorschnell hinter einer Argumentation zu verbarrikadieren. Vielmehr bedeuten mit der Flüchtigkeit der geheimnisvollen Handschrift geführte Debatten ein Stück Denkfreiheit. Auf dass ich mir eine Meinung bilde, statt einfach eine zu haben.

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