Meinung 11. Oktober 2018, von Felix Reich

Damit mein Glaube nicht verkümmert

Schlusspunkt

Der Geist weht wo er will. Und doch braucht es den Gottesdienst, damit der Glaube Nahrung erhält und aus Vereinzelung Gemeinschaft werden kann.

Ich weiss schon. Den lieben Gott erkennen kann ich auch im Wald. Oder in der Bahnhofsunterführung. Und in der Bibel lesen kann ich allein. Oder wenigstens einen Vers erhaschen auf dem Abreisskalender, der auf dem Nachttisch liegt. Um Gott nahe zu sein, brauche ich weder Kirche noch Gottesdienst.

Kirche ist überall

Der Geist weht, wo er will. In einer unverhofft inspirierenden Begegnung oder in einem befreiten Atemzug in der Natur.

Solche Momente sind unverfügbare Geschenke. Und Kirche ist ohnehin, wo Menschen geholfen, das Evangelium verkündet wird. Also oft dort, wo keine Kirche steht.

Von der Erzählung des Raums

Trotzdem brauche ich die Kirche. Einen Raum, in dem ich Schutz finde vor dem Lärm der Stadt und den Ansprüchen der Welt. Wo ich einkehren kann auf der Durchreise. In die Kathedrale, die mich mit ihrer verschwenderischen Grösse überwältigt, oder in die schlichte, Geborgenheit verströmende Bergkirche.

Beide erzählen von Menschen, die lange vor mir ihren Weg zu Gott gesucht und gefunden haben. Sie helfen mir, innezuhalten, die Gedanken zu ordnen, Ängste vor Gott zu bringen. Und dankbar zu sein.

Das schaffe ich nicht immer. Aber im Kirchenraum vertraue ich darauf, dass es geschieht. Stärker noch ist das Vertrauen im Gottesdienst. Mich spricht unverhofft ein Bibelvers an, weil er in der Predigt interpretiert wird, wie ich ihn noch nie verstanden habe.

Die Bibel braucht ein Echo

Die Bibel braucht den Echoraum der Auslegung. Die Auseinan­dersetzung mit der zeitlichen Distanz, aus der gesprochen wird. Und die Unmittelbarkeit des Klangs im Raum, der für die Verkündigung gebaut wurde. Zudem bin ich im Gottesdienst nicht allein. Menschen, die mir fremd oder zumindest nicht besonders nahe sind, singen und beten mit mir, hören auf das Wort Gottes.

Eine gute Predigt begeistert, eine sorgsam gestaltete Liturgie beheimatet, ein gelungener Gottesdienst verwandelt. Aus Zweifel wird Vertrauen, aus Vereinzelung Gemeinschaft. Natürlich gibt es dafür keine Garantie. Manchmal ist die Predigt fad, die Liturgie nicht mein Ding. Oder ich schweife ab, bin fahrig oder einfach nur müde.

Der Aufbruch am Sonntag

Aber eigentlich immer ist da etwas, das mich berührt und stärkt. Ein Lied, der Blick in das von der Morgensonne erleuchtete Kirchenfenster, die Musik, das Unservater und der Segen, die Weite des Raums. Manchmal reicht schon der Aufbruch am Sonntag. Ich richte mich aus auf Gott, lasse mich ansprechen von seinem Wort. Mein Glaube erhält Nahrung. Ohne Gottesdienst droht er zu verkümmern.

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