Meinung 09. März 2021, von Felix Reich

Liebe über das Ende der Möglichkeiten hinaus

Schlusspunkt

Zu glauben bedeutet, Gott zuzutrauen, dass er mit seiner Liebe überrascht. Sich diese Zuversicht abzuringen, ist manchmal ein zäher Kampf. Ein Kirchenlied hilft dabei.

Ich höre die Kirchenglocken meiner Stadt. Ein Jahr ist es her, seit in der Schweiz die erste Person am Coronavirus starb. Zwölf Monate, in denen ich neue Worte lernte: Inzidenzwert, Superspreader, Lockdown. In denen sich Gefühle von Isolation und Überforderung, Rücksichtnahme und Zusam­mengehörigkeit, Überdruss und Müdigkeit, Trauer und Angst, Hoffnung und Zuversicht in rascher Abfolge abwechseln und zum konfusen Stimmungsbild verschwimmen.

Ich denke an Menschen aus meinem Umfeld, die in der Zeit gestorben sind. Nicht am Virus, aber nicht unberührt davon. Besuche waren nicht mehr möglich. Das Zu­sam­men­sein an der Abdankung eingeschränkt.

Volles Herz und leere Worte

Ich möchte einen Moment Ruhe finden, mich ausklinken aus dem Alltag. Beten. Doch mir fehlen die Worte. Da ist plötzlich eine ver­traute Melodie im Kopf. Sie be­gleitet mich seit meiner Kindheit. Ich habe das Lied oft gesungen. In vollen Kirchen.

Mit brüchiger Stimme, wenn ich mit übervollem Herzen am Sterbebett sass und nichts zu sagen wusste oder die Stille am Grab nicht aushielt.«Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten, in aller Not und Traurigkeit.» 

Der Gesegnete hinkt

Das Kirchenlied lässt mich aufatmen, es lockert den Würgegriff der Angst. Gespeichertes Gottvertrauen. Worte, die mir dank der Musik mehr bedeuten, als sie sagen. Seit die Glocken geläutet haben, summe ich die Zeilen wieder häufiger vor mich hin. Und ich denke über den Text nach.

Mir kommt Jakob in den Sinn, der mit dem Engel ringt und hinkend und gesegnet seinen Weg geht. Manchmal ist der Glaube ein zäher Kampf um Zuversicht.

Das Gegenprogramm zur Angst

Das Lied negiert die Angst nicht. Doch es formuliert das Gegenprogramm, das auch die biblischen Geschichten durchzieht: «wunderbar erhalten». Was damit gemeint ist, kann ich nicht wissen. Ich erfahre es.

Eine Begegnung an einer Abdankung, ein Gespräch, das trotz der Trauer beglückt, weil darin aufscheint, was ein gelebtes Leben anderen Menschen auf den Weg geben kann. Ein Blick, ein Wort kurz vor dem Tod eines gelieb­ten Menschen. Ein Moment, der eine liebevolle, kaum je dagewesene Nähe schafft in einer Zeit, in der die Distanz unüberbrückbar scheint. Solche Erlebnisse sind mir seither ganz wach im Sinn und unendlich teuer.

Gottesgeschenke. Das Lied erzählt davon. In den Zeilen finde ich den Mut, Gott zuzutrauen, dass er Liebe ermöglicht, wenn ich meine, bereits am Ende der Möglichkeiten angelangt zu sein.

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