Auf den Wegen des Lebens

Schlusspunkt

Einen Friedhof in der Nähe zu haben, ist ein Geschenk. Denn die Friedhöfe gehören ins Zentrum der Gesellschaft und mitten ins Leben.

Ich mag Friedhöfe. Auf den Wegen des Sihlfeld-Friedhofs in meiner Nachbarschaft tapsten meine Kinder auf noch unsicheren Beinen über den Kies, sammelten Herbstblätter und rannten den Eichhörnchen hinterher. Hier musste ich keine Angst haben, dass ein Auto um die Ecke biegt. Mehr als stolpern und hinfallen konnten die Kinder nicht.

Durch die Jahreszeiten

Auch in meiner Kindheit war der Friedhof nah. Mitten im Dorf, in seiner Mitte die Kirche. Auf der Mauer balancierend, die ihn umgab, testete ich meinen Mut. Mit schauriger Faszination stand ich am Zaun, wenn der Friedhofsgärtner alte Gräber aufhob und die Gebeine sichtbar wurden. Oft stand ich vor der Kirche und wartete, bis das Hochzeitspaar aus der Türe trat und uns Feuersteine zuwarf. Die Bonbons mochte ich nicht, aber mir gefiel das Auffangen und Sammeln. Mit gefüllten Hosensäcken rannte ich durch den Friedhof zurück. Vertraut war mir der Blick auf die Trauerfamilien, die am offenen Grab standen, wenn ich nach einem Fehlschuss auf dem nahen Kiesweg den Fussball holen musste.

Nun wieder einen Friedhof in der Nähe zu haben, ist ein Geschenk. Er lässt mich die Jahreszeiten erleben. Die verschwenderische Blütenpracht des Frühlings, der in der Asphalthitze vermisste Schatten im Sommer, die leuchteten Blätter im Herbst und ihr Rascheln unter meinen Füssen, die kahlen Äste, die sich vor dem Winterhimmel abzeichnen wie Scherenschnitte. Auf Spaziergängen laufe ich belastenden Gedanken davon, kann Ideen, die mich inspirieren, weiterspinnen. Der Ort wurde zu meiner Landschaft mit Wegmarken der Erinnerung: erste Kinderschritte, unter der Schneelast brechende Äste, tröstende Gespräche, das Staunen über die riesigen Magnolienbäume, das mich mit wildfremden Menschen verband, so dass wir uns still anlächeln mussten.

Die Liebe überdauert

Ein Friedhof ist viel mehr als ein Park. Das Nebeneinander von Menschen in Trauer, in Gedanken vertieften Spaziergängerinnen und Spaziergängern und lachenden Kindern berührt mich. Dass die Friedhöfe mitten im Leben Platz haben, der Tod und die Trauer in der Gemeinschaft aufgehoben sind, wünsche ich mir. Am Ewigkeitssonntag ganz besonders. Im Adventslicht, das eine Woche später angezündet wird, bleibt der Schein der Kerzen präsent, die in den Kirchen am Ewigkeitssonntag für die Verstorbenen brannten. Der Schmerz über den Verlust bleibt. Die Liebe und all das, was den Tod überdauert, Gott sei Dank auch. 

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