Vom gefährlichen Wettbewerb der Heiligen Schriften

Schlusspunkt

Altes und Neues Testament soll man nicht auseinanderdividieren, findet Felix Reich.

Gewalt. Zurzeit ist es ziemlich en vogue, Heilige Schriften zu vergleichen. In der Disziplin der Gewalt führt der Koran die Hitliste an, gefolgt vom Alten Testament. Das Neue Testamentgilt dann als das Hohe Lied auf die Barmherzigkeit. Was sich als christliche Selbstkritik tarnt («Wir haben ja auch das Alte Testament und damit ein Gewaltproblem»), hat erstens einen gefährlichen antijüdischen Kern. Und zweitens ist es schlicht falsch. Altes und Neues Testament lassen sich nicht auseinanderdividieren. Die Botschaft des Evangeliums gründet im Alten Testament. Für diese Erkenntnis reicht es schon, den Prolog zum Gleichnis des Barmherzigen Samariters zu lesen.

Gesetz. Mit dem Gleichnis antwortet Jesus auf die Frage nach dem Weg zum ewigen Leben. Bevor er erzählt, fragt Jesus zurück, was denn im Gesetz stehe. Der jüdische Gelehrte formuliert daraufhin das berühmte Doppelgebot der Liebe: «Du sollst deinen Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst» (Lukas 10,25). Nächstenliebe ist somit keine christliche Erfindung, sondern die Essenz des Alten Testaments und damit jüdisches Erbe. Natürlich erzählt das Alte Testament auch von Krieg, Vertreibung und Eroberung. Die Passagen lassen sich von der sicheren Schweiz aus leicht vom Tisch wischen. Für notleidende Christen, die unter brutaler Verfolgung leiden, hat die Sehnsucht nach einem wehrhaften Gott vermutlich eine ganz andere Bedeutung.

Liebe. Die Gewaltgeschichte lässt sich nicht entsorgen, sie gehört zur Religion, weil sie zum Menschen gehört. Es gilt, sich mit ihr kritisch auseinanderzusetzen. Das ist ganz schön unbequem. Aber auch das Neue Testament ist keineswegs ein Wohlfühlbuch. Wer die beiden Textsammlungen der Bibel im plumpen Wettbewerb der Heiligen Schriften gegeneinander ausspielt, wird ihnen nicht gerecht. Vielmehr bleiben Altes wie Neues Testament in ihrer faszinierenden Vielstimmigkeit und zuweilen irritierenden Sperrigkeit getragen von der gleichen Friedensvision von Liebe und Gerechtigkeit.

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