Der Sturm der Entrüstung bläst durch die sozialen Netzwerke, Parteiforen und Leserbriefspalten. Egal, ob es um gendergerechte Sprache oder Identitätspolitik, den Islam oder die Pandemie geht: Der Weg zur Verunglimpfung ist kurz und mit Unterstellungen gepflastert. Oft wird gar nicht erst versucht, das Argument des Gegenübers nachzuvollziehen, bevor es zerpflückt wird.
Gefangen im Sturm der Entrüstung
In vielen Debatten scheinen es die Akteure darauf angelegt zu haben, sich misszuverstehen. Also kommt es zum Shitstorm. Nötig wäre der pfingstliche Orkan der Verständigung.
Ein heilloses Durcheinander
Im Klima der Missverständnisse droht jedes Argument zur Extremposition verdreht und von Fundamentalisten jeglicher Couleur instrumentalisiert zu werden. Wer privilegiert ist, soll gefälligst schweigen. Wer sich diskriminiert fühlt, hat recht. Deshalb fühlen sich inzwischen auch jene diskriminiert, die den Diskurs bisher dominiert haben.
Die Angst, in eine Ecke gedrängt zu werden, lässt differenzierende Stimmen verstummen. Sie gehen unter im Orkan der Empörung, der ein heilloses Durcheinander anrichtet.
Die Berufung eines Privilegierten
Jesus hat die Kontroverse nicht gescheut und manchen Shitstorm provoziert. So erzählt das Lukasevangelium, wie er ausgerechnet den Zöllner Levi zur Nachfolge beruft. Jesus erfrecht sich sogar, dessen Einladung anzunehmen. «Da murrten die Pharisäer und ihre Schriftgelehrten» (Lk 5,30): Wie kann sich Jesus mit Levi und Konsorten, diesen privilegierten Systemgünstlingen, an einen reich gedeckten Tisch setzen?
Das Gastmahl, das der bekehrte Zöllner in seinem Haus veranstaltet, ist ein wunderbares Bild für eine Kirche, an deren Tisch die unterschiedlichsten Menschen Platz finden. Eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft, in der diskutiert, ausgeteilt und immer geteilt wird, die streitet, aber stets die Versöhnung im Blick hat. Hier wird ein anderes Gespräch möglich als in den sozialen Netzwerken und anderen Kampfarenen des öffentlichen Diskurses, weil Widersprüche und Inkonsequenzen, Zweifel und Ängste zur Sprache kommen dürfen.
Von den Kanzeln steigen
Nicht nur die Pandemie bringt die Gewissheiten ins Rutschen. Familienbilder wandeln sich, Werte werden hinterfragt, die Religionslandschaft ist bunter, die Volkskirche zu einer Minderheit unter Minderheiten geschrumpft. Das verunsichert. Schriftzüge auf Altstadthäusern werden als Abbilder kolonialistischer Denkmuster kritisiert. Personengruppen, die bisher kaum Redezeit hatten, melden sich selbstbewusst zu Wort.
Statt einander nun gegenseitig abzukanzeln, sollten beide Seiten von den Kanzeln der Selbstgerechtigkeit heruntersteigen und einander zuhören. Dann kann die Einsicht wachsen, dass Inschriften, die Menschen verletzen, kontextualisiert und wo nicht anders möglich überdeckt werden sollten, statt sie aus purem Trotz zum Kulturgut zu erheben. Umgekehrt zeigt sich, dass nicht jeder gleich ein Rassist ist, der an einem kontaminierten Begriff hängt.
Verletzlich werden
Ohne Verluste ist ein solches Gespräch nicht zu haben. Wer sich öffnet, zu seinen Zweifeln steht, macht sich verletzlich. Deshalb braucht es den Willen, einander falsche Worte und unüberlegte Angriffe zu verzeihen.
Als Jesus aus dem Tempel hinaus zur Ehebrecherin und aufs argumentative Glatteis geführt wird, schweigt er zuerst einmal. Dann bückt er sich, schreibt in den Sand. Kurz richtet er sich auf: «Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein» (Joh 8,7). Die Steinigung ist abgesagt.
In den Sand statt auf Twitter
Wer ernsthaft über Rassismus, koloniales Erbe, Identität oder die Bewältigung der Pandemie diskutieren will, muss sich auf ein Gespräch einlassen, in dem Urteile nicht in Stein gemeisselt sind und zum Wurfgeschoss werden, sondern in dem um Verständnis ringend in den Sand geschrieben wird. Mit Gottes Hilfe entsteht auf diesem Umweg ein heilsames Durcheinander, und ein «Brausen vom Himmel her» (Apg 2,2) wirft festgefahrene Denkmuster über den Haufen.
Der Heilige Geist öffnet Schubladen: männlich und weiblich, privilegiert und randständig, gläubig und ungläubig. Nicht mehr das Label zählt, sondern der Mensch, die Liebe. Vielleicht trüge die barmherzige Samariterin, die «ewiges Leben erbt» (Lk 10,25), weil sie die Augen vor dem Leid des Nächsten nicht verschliesst, ja heute ein Kopftuch.
Der Pfingst-Wirbelwind überwindet Grenzen und fegt Vorurteile hinweg. Wo Fenster und Türen geöffnet werden, legt sich der Sturm der Entrüstung. Der Durchzug des Heiligen Geistes legt frei, was die Menschen verbindet und trägt.