Recherche 24. August 2021, von Marius Schären

«Kein Urteil, kein Gericht, keine Schuldigen»

Kirche

Hat die Evangelische Kirche Schweiz ihren ehemaligen Ratspräsidenten vorschnell als Täter abgestempelt? Die EKS wehrt sich: Es seien bloss Untersuchungsergebnisse.

Zumindest zwei Publizisten sehen klar eine Verfehlung. Diese lasten sie aber ebenso klar nicht Gottfried Locher an, dem ehemaligen Ratspräsidenten der Evangelischen Kirche Schweiz. Sondern dem Ratsgremium: «Inquisition im rechtsfreien Raum» und «Scheinjustiz gegen Gottfried Locher» macht Christoph Mörgeli in einem Artikel in der Weltwoche aus, von «Känguru-Gericht», «Bananen-Kirche» und «Sodom und Gomorrha bei den Reformierten» schreibt Nebelspalter-Chefredaktor Markus Somm in seinem Magazin. Kurz: Beide lassen kein gutes Haar am Vorgehen der EKS zu den Geschehnissen rund um deren ehemaligen Ratspräsidenten.

Interne Untersuchung zeigt «Missbrauch»

Auslöser für die Breitseite von Somm und Mörgeli war die Medienkonferenz der EKS vom 4. August. Dort präsentierten die eigens einberufene Untersuchungskommission ihren Bericht zur Aufarbeitung der Geschehnisse und der Rat der EKS seine Stellungnahme dazu. Eine Äusserung sticht dabei besonders hervor: Es habe ein «Missbrauch» einer Mitarbeiterin des Kirchenbundes – so hiess die EKS zuvor – durch ihren damaligen Vorgesetzten Gottfried Locher stattgefunden, hält die Kommission fest. Die Frau hatte intern Beschwerde eingereicht. Und die jetzige Aufarbeitung der Geschichte durch das Anwaltsbüro Rudin Cantieni habe gezeigt, dass die Frau in ihrer «sexuellen, psychischen und spirituellen Integrität» verletzt worden sei.

Im vergangenen Jahr hätten weitere drei Personen «Vorkommnisse in Verbindung mit Gottfried Locher» gemeldet, hält der Bericht weiter fest. Dies sei erfolgt, nachdem die EKS via Website neu eine Möglichkeit aufgeschaltet hatte, Beschwerden einzureichen. Die Meldungen dieser drei Personen konnten aber nicht weiter behandelt werden, weil sie anonym bleiben wollten.

Der Beschwerdegrund ist verjährt

Erstmals hatte sich die Beschwerdeführerin 2011 an die Ombudsstelle des Kirchenbundes gewandt. Unternommen worden ist nichts, weil sich die Frau offenbar «nicht ausreichend konkret offenbart» habe, wie Rudin Cantieni in ihrem Bericht festhalten. Auch als die Beschwerdeführerin 2017 und 2018 erneut Personen des Kirchenbundes orientierte, hätten diese die Informationen als zu vage und den Wunsch der Frau nach Anonymität als Hindernis eingeschätzt, um die Vorwürfe weiterzuverfolgen. Das Anwaltsbüro hält zudem fest, dass heute wegen der Verjährung keine allfälligen Ansprüche mehr geltend gemacht werden könnten.

Trotz allem hiess es nun nach der Medienkonferenz vom 4. August in Medienberichten: «Übergriffe von Gottfried Locher bestätigt» (u.a. SRF, 20 Minuten), «Sexuelle Belästigung in einem Fall» (u.a. Oltener Tagblatt). Also genau das, was Mörgeli und Somm in der Weltwoche und im Nebelspalter kritisieren: Die «blamablen Untersuchungsergebnisse» (Mörgeli) hätten die EKS nicht daran gehindert, Gottfried Locher ohne Anklage, Beweise und Zuständigkeit zu verurteilen (Somm).

Nur «Untersuchungsergebnisse und Empfehlungen»

Für Dominic Wägli, Leiter Kommunikation der EKS, sind die Vorwürfe von Mörgeli und Somm «haltlos». Sie würden bewusst strafrechtliche Urteile mit internen Untersuchungen verwechseln. «Strafrechtlich gilt für Gottfried Locher immer noch die Unschuldsvermutung.» Die Präsidentin der Synode habe an der Medienkonferenz vom 4. August auch explizit erwähnt, dass es sich um eine administrative Untersuchung handle und nicht um ein strafrechtliches Verfahren. «Es gibt demnach kein Urteil, kein Gericht und keinen Schuldigen, sondern Untersuchungsergebnisse und Empfehlungen», hält Wägli fest.

Könnte aber nicht Gottfried Locher durch die Verbreitung des Resultates der internen Untersuchung in den Medien für die Öffentlichkeit als Täter in einem Sexualdelikt dastehen? Zumindest die Berichterstattung nach der Medienkonferenz legt das nahe. Dazu sagt der EKS-Kommunikationschef, dass seine Organisation schlicht transparent über die Ergebnisse der Untersuchung, die Empfehlungen daraus und das weitere Vorgehen orientieren wollte. «Es geht nicht primär um Herrn Locher, sondern um die Frage, ob die EKS – und namentlich ihr damaliger Präsident – ihre Fürsorgepflicht wahrgenommen haben.»

Weiter keine Stellungnahme von Locher

Ob und welche rechtlichen Ansprüche daraus allenfalls abzuleiten seien, sei noch offen, sagt Wägli weiter. Ausserdem könne die EKS keine Angaben machen über das Motiv der Beschwerdeführerin, auf eine Anklage zu verzichten. Und dass Locher nicht befragt worden sei, wie Markus Somm im Nebelspalter behauptete, ist gemäss dem Anwaltsbüro Rudin Cantieni falsch. Vielmehr habe er auf Anfragen nicht geantwortet. Dasselbe beim fertigen Bericht, wie Dominic Wägli bestätigt: «Gottfried Locher wurde der Untersuchungsbericht eingeschrieben zugesandt, er hat ihn refusiert und auf jegliche Stellungnahme verzichtet.» Auch für «reformiert.» war Locher nicht erreichbar.

Abgesagt hat jüngst nun ebenfalls die reformierte Kirchgemeinde Chur die ursprünglich geplante Teilnahme von Gottfried Locher an einem Diskussionsabend zum Thema «Kirche im Dialog». Dieser letzte Anlass von insgesamt vier hätte gemäss einem Bericht von ref.ch am 3. September stattfinden sollen – zwei Tage vor der ausserordentlichen EKS-Synode vom 5. und 6. September. Der Diskussionsabend wäre der erste öffentliche Auftritt Lochers nach seiner Rücktrittserklärung als EKS-Präsident am 27. Mai 2020 gewesen.

Mehr zu diesem Thema

Synode nimmt Untersuchungsbericht zur Kenntnis und spielt den Ball dem Rat zu
06. September 2021, von Felix Reich

Synode nimmt Untersuchungsbericht zur Kenntnis und spielt den Ball dem Rat zu

Untersuchung: Die Vorwürfe gegen den einstigen EKS-Präsidenten Gottfried Locher seien «glaubwürdig»
04. August 2021, von Katharina Kilchenmann

Untersuchung: Die Vorwürfe gegen den einstigen EKS-Präsidenten Gottfried Locher seien «glaubwürdig»

Die Evangelische Kirche Schweiz teilt mit, dass sich die Untersuchung im Fall Locher verzögert.
03. Februar 2021, von Nicola Mohler

Die Evangelische Kirche Schweiz teilt mit, dass sich die Untersuchung im Fall Locher verzögert.

Die Krise aufarbeiten und den Blick nach vorne richten
23. September 2020, von Felix Reich

Die Krise aufarbeiten und den Blick nach vorne richten

Synode holt Frauenkonferenz in die Untersuchungskommission
14. September 2020, von Felix Reich

Synode holt Frauenkonferenz in die Untersuchungskommission

Pfarrerin Rita Famos will Präsidentin der EKS werden
04. September 2020, von Felix Reich

Pfarrerin Rita Famos will Präsidentin der EKS werden

Erste Synode der EKS findet unter erschwerten Bedingungen statt
15. Juni 2020, von Katharina Kilchenmann, Felix Reich

Erste Synode der EKS findet unter erschwerten Bedingungen statt

Die EKS-Synodalen erhalten den GPK-Bericht nicht vorgängig – der Rat hingegen schon
12. Juni 2020, von Marius Schären

Die EKS-Synodalen erhalten den GPK-Bericht nicht vorgängig – der Rat hingegen schon

«Probleme gibt es überall, auch in der Kirche. Entscheidend ist, wie man darauf reagiert.»
12. Juni 2020, von Katharina Kilchenmann

«Probleme gibt es überall, auch in der Kirche. Entscheidend ist, wie man darauf reagiert.»

Gefahren der diffusen Macht in der Kirche
11. Juni 2020, von Sabine Schüpbach Ziegler

Gefahren der diffusen Macht in der Kirche

EKS-Vizepräsidentin Esther Gaillard über juristische Drohkulissen und die letzte Grenzüberschreitung
10. Juni 2020, von Felix Reich

EKS-Vizepräsidentin Esther Gaillard über juristische Drohkulissen und die letzte Grenzüberschreitung

Was zum Eklat führte, interessiert auch nach dem Rücktritt
28. Mai 2020, von Cornelia Krause, Felix Reich

Was zum Eklat führte, interessiert auch nach dem Rücktritt

Theologinnen und Theologen verlangen die Aufklärung des Eklats im Rat der EKS
19. Mai 2020

Theologinnen und Theologen verlangen die Aufklärung des Eklats im Rat der EKS

Eine Kommmission soll den Rücktritt von Sabine Brändlin untersuchen
13. Mai 2020, von Felix Reich

Eine Kommmission soll den Rücktritt von Sabine Brändlin untersuchen

Interpellation verlangt Transparenz rund um den Rücktritt von Sabine Brändlin aus dem Rat der EKS
08. Mai 2020, von Sabine Schüpbach Ziegler

Interpellation verlangt Transparenz rund um den Rücktritt von Sabine Brändlin aus dem Rat der EKS