Recherche 12. Juni 2020, von Katharina Kilchenmann

Theologieprofessorin warnt vor vorschnellen Schlüssen

Kirche

In der Krise rund um den Ex-Präsidenten Gottfried Locher steht auch der Rat der EKS nicht gut da. Das Krisenmanagement habe versagt, meint die Theologieprofessorin Isabelle Noth.

Warum ist der Konflikt der zum Rücktritt eines Ratsmitglieds und dem des Präsidenten der EKS führte, derart verfahren?

Isabelle Noth: Mir scheint es nötig, den Konflikt erst einmal zu verorten. Seit längerem beschäftigen uns Themen wie Sexismus, Kindsmissbrauch, die #MeToo-Debatte und - aktuell eben im Nationalrat diskutiert - das Strafmass bei Vergewaltigung. In diesen Kontext fallen nun Vorwürfe gegen Gottfried Locher. Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund löst der Begriff «Grenzverletzungen» entsprechende Assoziationen und Phantasien aus. Es drängen sich etwa Bilder von sexuellen Übergriffen auf, wie sie in der Römisch-Katholischen Kirche aufgedeckt wurden.

Warum ist es wichtig, das zu berücksichtigen?

Weil die Schemata, die in unseren Köpfen ablaufen, unsere Wahrnehmung steuern und uns zu vorschnellen Schlüssen verleiten können. Bis jetzt wurde weder ein strafrechtliches noch zivilrechtliches Verfahren gegen Herrn Locher eröffnet. Deshalb ist es wichtig, Vorsicht walten zu lassen mit möglichen – in der Forschung als sogenannte kognitive «shortcuts» bezeichneten – Vorurteilen. Im Moment deutet einiges lediglich darauf hin, dass es beim aktuellen Fall um Fragen der Wahrung oder Missachtung von Nähe und Distanz geht.

Ist diese Formulierung nicht etwas verharmlosend? Immerhin wird in der Tagespresse von «schweren Vorwürfen» gesprochen.

Solche Bewertungen können schon selber Ausdruck eines kognitiven shortcuts sein. Was verbinden wir mit «schweren Vorwürfen»? Hier werden dramatische Bilder heraufbeschworen. Aber die Sachlage ist noch unklar und der Sprachgebrauch verleitet zu einer undifferenzierten Debatte auf der Grundlage einer mangelnden Faktenbasis.

Sie kritisieren also die Art der Kommunikation, auch jene der Frauen, welche die Vorwürfe gegen Locher erhoben haben?

Nein, denn dazu weiss ich zu wenig. Meine Aufgabe als Praktische Theologin besteht unter anderem in der Reflexion von Kommunikationsprozessen, und ich habe in meinem NZZ-Gastkommentar «einen generellen Aspekt der Vorwurfssituation im Abhängigkeitsverhältnis» beleuchtet. Erwachsene Menschen allgemein tragen anfallende Konflikte offen, transparent und respektvoll aus. Alles andere schadet und zwar beiden Seiten.

Ein professionelles Vorgehen ist empathisch und wahrt zugleich eine kritische Distanz.

Die Vizepräsidentin der EKS Esther Gaillard hat die Beschwerde der Frau in den Rat gebracht. Sie schildert im Beitrag der «Rundschau» vom 10.6.2020, sie habe der betroffenen Frau mehrere Stunden zugehört, sei über die Vorwürfe erschüttert gewesen und habe ihr geglaubt. Was halten sie davon?

Ich bin in der Sendung über diese Aussage gestolpert. Sie hat bei mir die Frage geweckt, ob genug Rollenbewusstsein vorhanden war und die erforderliche Distanz gewahrt wurde. Stundenlanges Zuhören weist eher in Richtung einer Identifikation und Solidarisierung hin. Als Vizepräsidentin ist frau jedoch weder Freundin noch Mutter, sondern Amtsträgerin mit bestimmten Kompetenzen und Verantwortlichkeiten. Ein professionelles Vorgehen ist empathisch und wahrt zugleich eine kritische Distanz, um handlungsfähig zu bleiben, da ja alle Parteien zu ihrem Recht kommen können müssen und nur so eine Klärung herbeigeführt werden kann.

Wird die öffentliche Aufmerksamkeit des Falls Locher der reformierten Kirche als Ganzes schaden?

Es kommt nun darauf an, wie weiter verfahren wird. Wenn integre Mitglieder der EKS besonnen und kritisch die Mängel analysieren, sich womöglich professionell begleiten lassen und ethische Pflöcke einschlagen, welcher Umgang in Kirchen erwünscht ist und wie dieser konkret eingeübt werden kann, mag daraus ein heilsamer Prozess entstehen, der auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen und respektiert wird. Probleme gibt es überall, auch in der Kirche. Entscheidend ist, wie man darauf reagiert.

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