Warum ist der Konflikt der zum Rücktritt eines Ratsmitglieds und dem des Präsidenten der EKS führte, derart verfahren?
Isabelle Noth: Mir scheint es nötig, den Konflikt erst einmal zu verorten. Seit längerem beschäftigen uns Themen wie Sexismus, Kindsmissbrauch, die #MeToo-Debatte und - aktuell eben im Nationalrat diskutiert - das Strafmass bei Vergewaltigung. In diesen Kontext fallen nun Vorwürfe gegen Gottfried Locher. Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund löst der Begriff «Grenzverletzungen» entsprechende Assoziationen und Phantasien aus. Es drängen sich etwa Bilder von sexuellen Übergriffen auf, wie sie in der Römisch-Katholischen Kirche aufgedeckt wurden.
Warum ist es wichtig, das zu berücksichtigen?
Weil die Schemata, die in unseren Köpfen ablaufen, unsere Wahrnehmung steuern und uns zu vorschnellen Schlüssen verleiten können. Bis jetzt wurde weder ein strafrechtliches noch zivilrechtliches Verfahren gegen Herrn Locher eröffnet. Deshalb ist es wichtig, Vorsicht walten zu lassen mit möglichen – in der Forschung als sogenannte kognitive «shortcuts» bezeichneten – Vorurteilen. Im Moment deutet einiges lediglich darauf hin, dass es beim aktuellen Fall um Fragen der Wahrung oder Missachtung von Nähe und Distanz geht.
Ist diese Formulierung nicht etwas verharmlosend? Immerhin wird in der Tagespresse von «schweren Vorwürfen» gesprochen.
Solche Bewertungen können schon selber Ausdruck eines kognitiven shortcuts sein. Was verbinden wir mit «schweren Vorwürfen»? Hier werden dramatische Bilder heraufbeschworen. Aber die Sachlage ist noch unklar und der Sprachgebrauch verleitet zu einer undifferenzierten Debatte auf der Grundlage einer mangelnden Faktenbasis.
Sie kritisieren also die Art der Kommunikation, auch jene der Frauen, welche die Vorwürfe gegen Locher erhoben haben?
Nein, denn dazu weiss ich zu wenig. Meine Aufgabe als Praktische Theologin besteht unter anderem in der Reflexion von Kommunikationsprozessen, und ich habe in meinem NZZ-Gastkommentar «einen generellen Aspekt der Vorwurfssituation im Abhängigkeitsverhältnis» beleuchtet. Erwachsene Menschen allgemein tragen anfallende Konflikte offen, transparent und respektvoll aus. Alles andere schadet und zwar beiden Seiten.