Dick Marty: «Es würde sicher nicht viele Klagen geben»

Politik

Die Initiative «für verantwortungsvolle Unternehmen» kommt bald zur Abstimmung. Dick Marty vom Komitee nimmt Stellung zu Argumenten der Gegner.

Die Diskussion läuft heiss. Im Vorfeld der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative am 29. November gibt es gerade in Kirchenkreisen einen engagierten Austausch über Sinn und Unsinn und über die Frage, wie stark sich kirchliche Exponenten politisch positionieren sollen.

In zwei unabhängig voneinander und praktisch gleichzeitig geführten Interviews haben wir Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) und Dick Marty (FDP), Co-Präsident des Initiativkomitees befragt.

Die Stellungnahmen von Bundesrätin Karin Keller-Sutter finden Sie hier.

Warum braucht es die Initiative?

Dick Marty: Natürlich verhält sich ein Grossteil der im Ausland tätigen Schweizer Firmen sehr korrekt. Aber in den letzten Jahren hatten wir verschiedene Skandale mit Firmen, die ihren Sitz in der Schweiz haben und im Ausland Menschenrechte verletzt oder internationale Umweltstandards missachtet haben. Oft gehen sie unter dem Druck von Aktionären, die mehr Profit wollen, mit der lokalen Bevölkerung und der Umwelt inkorrekt um – insbesondere in fragilen Ländern, wo Armut und Gewalt herrschen und der Staat nicht in der Lage ist, die Bevölkerung zu schützen. Dass in solchen Fällen die Staaten des Firmensitzes Regeln erlassen sollen, wird übrigens auch von der Uno, der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und vom Europarat empfohlen.

Dafür gibt es ja die Rechtsprechung der jeweiligen Länder. Gerade bei einer Kohlemine mit Beteiligung von Glencore in Kolumbien, die von den Initianten in einem kürzlich publizierten Video negativ gezeigt wird, hat das dortige Verfassungsgericht Massnahmen zum Schutz der Umwelt verfügt.

Aber die bereits Geschädigten haben keinen Rappen bekommen, keine Wiedergutmachung. Das ist das Problem. Und warum haben die Unternehmen denn so Angst vor der Initiative? Sind Menschenrechte so unwichtig, dass Firmen, die Milliardengewinne machen, nicht darauf achten müssen?

Im Übrigen hat das Oberste Gericht, der Supreme Court, in London 2019 in einem Fall eines Dorfes in Sambia gegen das Bergbauunternehmen Vedanta deutlich gesagt: Da die Menschen dort nicht ihre Schadenersatzklage nicht von einem unabhängigen Gericht beurteilen lassen können, sollen sie in Grossbritannien ein Zivilrechtsverfahren veranlassen können, wo das angeklagte Unternehmen seinen Sitz hat. Gerade bei grossen Konzernen in den eingangs erwähnten fragilen Ländern sind die Behörden vor Ort häufig enorm abhängig ihnen. Da ist eine wirkliche Rechtsprechung kaum möglich.

Dann ist es doch ein rechtsimperialistisches und kolonialistisches Ansinnen, wie die Initiativgegner auch sagen: Die Schweiz sabotiert den Rechtsstaat in anderen Ländern.

Dieses Argument ist – vorsichtig gesagt – skandalös. Wer sind die Neokolonialisten? Wir, die der lokalen Bevölkerung Rechtsmöglichkeiten geben wollen, oder jene, die seit Jahrzehnten vom Reichtum dort profitieren? Ich finde das grotesk, der Initiative Neokolonialismus vorzuwerfen.

Ausserdem greift unser Vorschlag nicht ein in das Rechtssystem anderer Länder. Es geht ums Privatrecht in der Schweiz. Es wird kein Schweizer Gericht, keine Staatsanwaltschaft, keine hiesige Polizei in anderen Ländern Untersuchungen machen wegen einer allfälligen Klage bei uns. Bei Zivilklagen müssen die Parteien selbst Beweise auf den Tisch legen. Und international kann privatrechtlich ohnehin nur Klage eingereicht werden am Ort des Beschuldigten. Wir führen also nichts wirklich Neues ein.

Es würde eine Klagenflut aufs Schweizer Justizsystem zurollen, wird gegen die Initiative argumentiert.

Hier muss man zuerst schauen, was überhaupt notwendig ist für eine Klage. Es geht nicht um Bagatellen, sondern um Gravierendes, nämlich Folgen von Verletzungen der Menschenrechte oder internationaler Umweltschutzstandards. Weiter müssen, wie schon erwähnt, die Geschädigten zuerst den Schaden beweisen. Ebenso, dass er aufgrund fahrlässigen Handelns entstand und dass das Unternehmen, das den Schaden verschuldet haben soll, von einem Unternehmen mit Sitz in der Schweiz zumindest kontrolliert ist. Und die Klagenden müssen alle Kosten des Zivilverfahrens vorschiessen.

Das heisst, es wird sicher nicht viele Klagen geben. Das bestätigt unter anderem auch eine Analyse der Rechtsprofessorin Tanja Domei, die kürzlich im «Tages Anzeiger» publiziert wurde. Ausserdem ist zu beachten: Die Parteien können sich jederzeit auf einen Vergleich einigen. Bei Zivilrechtsverfahren in der Schweiz passiert das in einer grossen Mehrheit der Fälle. Nur in wenigen kommt es tatsächlich zu einem Prozess.

Aber die beschuldigten Unternehmen müssen ihre Unschuld beweisen. Die Initiative bringt eine ungerechte Beweislastumkehr.

Nein, das tut sie nicht. Das ist Unsinn. Die Geschädigten müssen zuerst den Schaden beweisen. Das bestätigen auch Rechtsprofessoren.

Der Gegenvorschlag bringt überhaupt nichts, weil Geschädigte kein Recht erhalten.
Dick Marty, Co-Präsident der Kovi

Dennoch könnte es zu langwierigen Prozessen kommen. Der Gegenvorschlag wäre effizienter: Missachten Unternehmen die Vorschriften für Transparenz und für die Berichterstattung über die Sorgfaltsprüfung, gibt es eine Busse.

Das bringt überhaupt nichts, weil Geschädigte kein Recht erhalten. Der Gegenvorschlag verlangt nur, dass Unternehmen berichten müssen, was sie gemacht haben. Und nur in einigen Situationen muss das eine unabhängige Stelle bestätigen. Das reicht einfach nicht. Ich finde es inakzeptabel, dass Teile unserer Wohlfahrt auf Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern basieren. Martin Luther King hat gesagt: Eine Ungerechtigkeit irgendwo auf der Welt ist eine Bedrohung der Gerechtigkeit bei uns. Das ist eine grosse Wahrheit.

Partnerschaftliche Lösungen zwischen Parteien bringen aber rascher und nachhaltigere Fortschritte als der Weg über gerichtliche Entscheide.

In der Tat, das ist auch das, was eben in der Schweiz passiert: Die allermeisten zivilrechtlichen Klagen werden mit Vergleichen gelöst. Das wird so bleiben. Der Wert der Initiative ist daher vor allem, symbolisch zu sagen, dass Menschenrechte und Umweltrichtlinien respektiert werden müssen. Und dass Unternehmen für Schäden, die sie mit ihren Entscheiden anrichten, geradestehen müssen.

Trotzdem ist es keine gute Aussicht gerade für Entwicklungsländer, wenn sich Unternehmen zurückziehen aus Angst vor Klagen.

Frankreich hat ein ähnliches Gesetz. Grossbritannien und Kanada wenden die Prinzipien der Initiative an. Und ich weiss nicht, warum eine Firma ein Land verlassen sollte. Glauben Sie, dass Glencore Kongo verlassen wird – wo am meisten Coltan und Kobalt vorhanden ist, die unabdingbar sind für unsere Smartphones, Tablets und Computer? Die Konzerne haben gar keine Alternative. Sie müssen dort sein, wo diese Güter vorhanden sind.

Ausserdem sagen Gegner der Initiative oft: Wir müssen in der Entwicklungshilfe den Menschen vor Ort helfen. Völlig einverstanden. Welches ist die beste Methode, den Leuten zu helfen? Ihnen Rechte zu geben, dass sie sich wehren können gegen den Schaden, den sie durch andere erleiden. Und wenn in diesen Ländern mehr Gerechtigkeit herrscht, werden wir auch weniger Migration haben.

Gerecht ist es aber auch nicht für Unternehmen, wenn sie für sämtliche Handlungen von Tochterfirmen und Lieferanten haften müssten.

Das müssten sie aber auch bei einer Annahme der Initiative nicht. Firmen mit Sitz in der Schweiz müssen nur haften für die von ihnen kontrollierten Unternehmen oder Unternehmensteilen, die Menschenrechte oder internationale Umweltstandards verletzen. Und welches kleine oder mittlere Unternehmen (KMU) kontrolliert schon andere Unternehmen in den wenigen fragilen Ländern, wo die Behörden nicht imstande sind, Bevölkerung zu schützen? Ausser vielleicht in der Gold- und Diamanten-Branche kaum eines.

Alle Firmen müssen sorgfältig handeln: Das gilt für alle in der Schweiz. Warum sollen sie sich nicht in anderen Ländern auch korrekt verhalten können? 

Dick Marty, 75

Der Jurist ist Co-Präsident des Komitees der Konzernverantwortungsinitiative und seit langem Mitglied der FDP. 1975 wurde er Tessiner Staatsanwalt, 1989 Regierungsrat und von 1995 bis 2011 sass er im Ständerat. Er arbeitete an der Bundesverfassung von 1999 mit und ermittelte für den Europarat zu geheimen CIA-Gefängnissen. 2010 publizierte er seinen weltweit beachteten Bericht über den Organhandel der kosovarischen UÇK. Marty wurde mit diversen Preisen geehrt.

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