Recherche 27. Oktober 2020, von Katharina Kilchenmann

«Die Initiative ist gut gemeint, aber nicht gut gemacht»

Politik

Die Initiative «für verantwortungsvolle Unternehmen» kommt bald zur Abstimmung. Bundesrätin Karin Keller-Sutter nimmt Stellung zur Initiative und begründet den Gegenvorschlag.

Die Diskussion läuft heiss. Im Vorfeld der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative am 29. November gibt es gerade in Kirchenkreisen einen engagierten Austausch über Sinn und Unsinn und über die Frage, wie stark sich kirchliche Exponenten politisch positionieren sollen.

In zwei unabhängig voneinander und praktisch gleichzeitig geführten Interviews haben wir Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) und Dick Marty (FDP), Co-Präsident des Initiativkomitees befragt.

Die Stellungnahmen von Dick Marty finden Sie hier.

Kann man ernsthaft gegen das Anliegen der Initiative sein, dass Unternehmen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie Menschenrechte und Umweltstandards nicht einhalten?

Karin Keller-Sutter: Es geht am 29. November nicht darum, ob man für Menschenrechte oder gegen Menschenrechte ist, für die Umwelt oder gegen die Umwelt. Wir entscheiden nicht darüber, ob man sie schützen soll oder nicht, sondern lediglich darüber, wie man sie schützen soll. Auch der Bundesrat sieht Handlungsbedarf: Menschenrechte und die Umwelt müssen geschützt werden, und Unternehmen müssen stärker in die Pflicht genommen werden. Der Gegenvorschlag, der bei der Ablehnung der Initiative in Kraft tritt, verfolgt dieselben Ziele wie die Initiative, nur will er diese mit anderen Mitteln erreichen.

Die Initiative geht dem Bundesrat zu weit?

Wenn die Initiative angenommen würde, wäre die Schweiz das einzige Land weltweit, deren Unternehmen nicht nur für ihre eigenes Fehlverhalten haften, sondern auch für Schäden, die durch ihre Tochterfirmen oder wirtschaftlich abhängigen Zulieferer entstanden sind. Die neue Haftungsregel beträfe potenziell die gesamte Wirtschaft und wäre weltweit einzigartig. In Frankreich etwa sind von einer ähnlichen Regelung nur grosse Firmen mit 5000 Mitarbeitern in Frankreich und 10'000 weltweit betroffen. Diese neue Haftungsregelung wäre weltweit einzigartig.

Dazu kommt, dass diese Haftung nach Schweizer Recht, durch Schweizer Gerichte, durch Schweizer Richter abgewickelt wird. Im Ethikkomitee gegen die KVI sagte jemand treffend: Wir waren doch immer gegen fremde Richter, jetzt wollen wir selber die fremden Richter sein? Tatsächlich hat das etwas Anmassendes. Die Initiative ist gut gemeint aber nicht gut gemacht. Sie geht zu weit, darum unterstützt der Bundesrat den Gegenvorschlag des Parlaments. 

Was spricht denn dagegen, dass die Schweiz als reiches Land höhere Standards setzt als andere Länder? Wir könnten uns diese grössere Sorgfalt gegenüber Menschen und der Natur leisten.

Der Bundesrat muss eine Gesamtbeurteilung machen für die gesamte Schweizer Volkswirtschaft. Auch der indirekte Gegenvorschlag nimmt die Unternehmen deutlich mehr in die Pflicht als bisher. Der Gegenvorschlag kennt Berichterstattungs- und Sorgfaltspflichten bei der Kinderarbeit und bei Konfliktmineralien wie Gold, Wolfram, oder Zinn. Gerade bei der Kinderarbeit ist der Gegenvorschlag gleich streng wie die Initiative. Die Kinder sind die Schwächsten, sie muss man schützen, das war mir ein persönliches Anliegen. Da müssen Firmen auch mit dem Gegenvorschlag Sorgfalt walten lassen. 

Die Initiantinnen betonen, die KMU wären von den neuen Regelungen nicht betroffen. Stimmt das?

Diese Einschätzung teile ich nicht. Es kommt nicht auf die Grösse des Unternehmens an, sondern auf das Risiko, welches ein Unternehmen hat. Ein Beispiel: ein Schweizer KMU, das aus unterschiedlichen Ländern Baumwolle bezieht, etwa aus den USA oder Australien, hat auch Lieferanten in afrikanischen Ländern. Würde die Initiative angenommen, wäre dieser Baumwollhändler verpflichtet, die Lieferketten genau zu prüfen. In den USA und Australien dürfte er geringere Risiken haben als in Afrika.

Die paradoxe Konsequenz könnte sein, dass sich solche KMU aus Risikoländern zurückziehen, weil mit der Annahme der KVI das Risiko zu gross wird. Beim Rohstoffabbau in Afrika zum Beispiel weiss man, dass chinesische Firmen sehr präsent sind. Da muss man sich keine Illusionen machen: Die Standards und die Beobachtung sind dort ganz anders als bei einer Schweizer Firma.

Kein Unternehmen hat Interesse daran, gegen Auflagen oder Standards zu verstossen, die sensibel sind und deswegen in die Medien zu kommen.
Karin Keller-Sutter, Bundesrätin

Damit bleibt der Grundkonflikt des Wegschauens, auf dem unser wirtschaftlicher Erfolg basiert, bestehen. Das ist doch ein Freipass für die KMU, dass sie rechtlich nicht gebunden sind, genau hinzuschauen.

Dieses Bild der Wirtschaft teile ich nicht. Ich war selber Verwaltungsrätin, bevor ich Bundesrätin geworden bin, sowohl in KMU als auch in börsenkotierten Unternehmen. Kein Unternehmen hat Interesse daran, gegen Auflagen oder Standards zu verstossen, die sensibel sind und deswegen in die Medien zu kommen. Kein Unternehmen, das bei Sinnen und vernünftig ist, geht ein Reputationsrisiko ein oder verletzt irgendwelche Standards. Die Sensibilität der Konsumenten und auch der Investoren ist heute gross. Das Höchste Gut, das ein Unternehmen hat, ist sein guter Ruf.

Versucht Ihrer Meinung nach das Initiativkomitee mit drastischen Ausnahmebeispielen von Menschen und Landstrichen etwa, die durch Zementabbau vergiftet werden, Stimmung zu machen?

Es ist sicher sehr emotional und zugespitzt. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass es in einzelnen Unternehmen Fehlleistungen gibt, wie es überall Fehlleistungen gibt, wie ich Fehler mache als Mensch, jeden Tag. So wie der Staat Fehler macht oder die Kirche oder Hilfswerke. Sie wurden deswegen ja auch schon angeprangert. In dieser Kampagne wird das zugespitzt und vielleicht auch übertrieben dargestellt. Es wird auch ausgeblendet, dass ein Unternehmen, wenn es einen Schaden anrichtet, schon nach heutigem Schweizer Recht haftet. So wie jeder Bürger, jede Bürgerin für einen Schaden haftet und dafür geradestehen muss.

Im Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungsinitiative haben Sie die meisten Kirchenleute gegen sich. Haben Sie das schon mal erlebt?

Der Bundesrat ist nicht alleine. Der Gegenvorschlag wird nicht nur vom Bundesrat und vom Parlament mitgetragen, sondern auch grossmehrheitlich von der Wirtschaft und ebenso von Menschen aus der Kirche, es gibt auch ein Ethikkomitee und kirchliche Komitees gegen die Initiative.

Was denken sie über die vielen Fahnen, die an den Kirchen flattern?

Die stören mich nicht. Die Kirchgemeinden können darüber entscheiden. Ich bin praktizierende Katholikin und stelle in persönlichen Gesprächen mit Katholiken und Protestanten aus dem Freundeskreis immer wieder fest, dass sich viele ausgegrenzt fühlen, wenn sie als Gläubige und gute Christen gegen diese Initiative sind. Insofern nehmen sie die Kampagne als spaltend wahr.

Als gute Christin ausbeuterische Kinderarbeit und Umweltzerstörung in Kauf nehmen, nur um unseren Wohlstand zu sichern: Geht das?

Mein Eindruck ist, dass unser Wohlstand für viele selbstverständlich geworden ist. Dass viele nicht sehen, welches Privileg es ist, dass wir in der momentanen grossen Krise Geld zur Verfügung haben, um Bereiche, die stark betroffen sind, zu unterstützen. Wir können uns das leisten und werden es uns vielleicht noch länger leisten müssen. Umso mehr sollte man sich gerade in diesen Zeiten überlegen, ob man einen weiteren möglichen Schaden für den Standort Schweiz, der durch die Initiative entstehen könnte, in Kauf nehmen will.

Wir sollten jetzt besonnen und mit Augenmass handeln – wie es schon in der Bibel heisst. Bundesrat und Parlament unterstützen darum den Gegenvorschlag. Er nimmt Unternehmen bei den Menschenrechten und der Umwelt stärker in die Pflicht und ist international abgestimmt und kein Alleingang der Schweiz. Mit anderen Worten: Der Gegenvorschlag spricht Herz und Verstand an. Er setzt auf Dialog und nicht auf Klagen.

Karin Keller-Sutter, 56

Die Bundesrätin (FDP) und Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartementes war als Dolmetscherin tätig und nach einem Pädagogikstudium als Berufsschullehrerin. Vor ihrer Wahl 2018 in den Bundesrat war sie Gemeinderätin in Wil (SG) und Kantonsrätin, Regierungsrätin und Ständerätin in St. Gallen. Sie war ausserdem Mitglied oder Präsidentin diverser Verwaltungsräte und Stiftungen. 

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