Recherche 04. September 2018, von Felix Reich

Zentralistisch oder nahe bei den Leuten?

Abstimmung

Sanfte Anpassung an den Wandel der Zeit oder Bürokratiemonster: Jacqueline Sonego Mettner und Kurt Stäheli streiten über die Teilrevision der Kirchenordnung.

Was gewinnt die Kirche, wenn das Stimmvolk der Teilrevision der Kirchenordnung zustimmt?

Jacqueline Sonego Mettner: Die Kirche erhält die Chance und die Ressourcen, auf alle Menschen zuzugehen. So erhalten alle Reformierten die Zeitung «reformiert.», die Kirchenpflegen können diese wichtige Verbindung auch zu passiven Mitgliedern nicht einfach kappen. Und die Pfarrerinnen und Pfarrer müssen sich mit den Wünschen der Menschen für Hochzeiten, Taufen oder Abdankungen wirklich auseinandersetzen. Die Revision ist massvoll, nötig, zukunftsweisend.

Und was droht der Kirche bei einem Ja am 23. September?

Kurt Stäheli: Wir haben eine gute Kirchenordnung, doch die Teilrevision ist restlos missglückt. Die Kirche wird unsolidarisch, zentralistisch und bürokratisch.

Das sind jetzt viele Schlagworte. Können Sie sie mit Inhalt füllen?

Stäheli: Bürokratisch ist die Reform, weil mit den Kirchgemeindeschreibern graue Eminenzen geschaffen werden. Ich weiss, wovon ich rede, ich war selbst Gemeindeschreiber. Unsolidarisch und zentralistisch ist die Vorlage, weil kleine Gemeinden gar keine Chance haben. Sie werden zur Aufgabe gezwungen, selbst wenn sie gut funktionieren.

Unsolidarisch und bürokratisch: Da müssten bei den Religiös-Sozialen die Alarmglocken schrillen.

Sonego Mettner: Wenn dem denn so wäre. Mich irritiert die Polemik. Die Teilrevision wurde seriös be­raten und fand in der Synode eine deutliche Mehrheit. Dass man Fusionen hinterfragt, verstehe ich. Da wurde viel Geschirr zerschlagen.

Ist der Urnengang zur Teilrevision ein Votum zur Strukturreform?

Sonego Mettner: Eben gerade nicht. Das ist eine unselige Vermischung. Die Teilrevision ermöglicht nur Gemeinden zu fusionieren, die es auch wollen. Wenn die Gemeinden den Alleingang wählen, schadet ihnen die revidierte Kirchenordnung überhaupt nicht. Aber die Stadt Zürich ist auf die Reform angewiesen, um den jahrelangen Prozess gut zu Ende zu bringen. Die Zürcher stimmten klar für die Fusion.

Stäheli: Eine Annahme der Teilrevision beschleunigt den Fusionsprozess. Für mittlere und kleine Gemeinden sind die Einschnitte, welche die neue Pfarrstellenzuteilung mit sich bringt, massiv. Anreize für Zusammenarbeitsverträge ohne Fusion, wie sie die Synode eigentlich gefordert hat, fehlen.

Die Synode hat immerhin allen Gemeinden eine Pfarrstelle von mindestens 50 Prozent garantiert.

Stäheli: Das ist ein Zugeständnis, das nicht wirklich weiter hilft. Die Vitalität einer Gemeinde hängt nicht von ihrer Grösse ab. Ich habe den Eindruck, dass viele in Synode und Kirchenrat gar keine Ahnung mehr haben, wie ein Einzelpfarramt funktioniert. Ein Pfarrer ist im Dorf auch noch Diakon und sein ­eigener Sekretär. Es ist unvorstellbar, dass er mit 60 oder gar 50 Stellenprozent seine Arbeit erledigt. Im ganzen Bezirk Andelfingen haben wir zwei Teilzeitpensen für Jugendarbeit oder Diakonie. Gemeinden in der Stadt sind da ganz anders aufgestellt und werden jetzt auch noch bei den Pfarrstellen bevorteilt.

Sonego Mettner: Ich war in einem Einzelpfarramt mit Teilzeitstelle im Kanton Schaffhausen. Ich kenne die Situation also sehr gut. Die neue Zuteilung der Pfarrstellen führt sicher zu Härtefällen, die abgefedert werden müssen. Zudem haben wir eine grosszügige Übergangsregelung bis 2024. Als viel grössere Gefahr für die Kirche sehe ich den Stadt-Land-Graben, den die Gegner heraufbeschwören. Die Probleme, die sich der Kirche stellen, betreffen Dörfer genauso wie die Städte.

Hat die Teilrevision eine Antwort auf diese Probleme?

Stäheli: Nein, und das ist das Problem. Die Teilrevision setzt nur bei den Strukturen an, über Inhalte wurde erst gar nicht diskutiert.

Sonego Mettner: Eine Antwort ist der Auftrag, unterschiedliche Lebenswelten zu berücksichtigen und bei den Kasualien besser auf die Menschen einzugehen. Die Kirchenordnung von 2010 ist sehr gut. Es braucht nur sanfte Anpassungen.

Auch Sie sagten, die Kirchenordnung sei gut genug. Warum wollen Sie nun inhaltliche Neuerungen?

Stäheli: Verbesserungen sind immer möglich. Eine Debatte über Inhalte hätte die Kirche dringend nötig.

Hochzeiten à la carte und Taufen, wie es euch gefällt: Mutiert die Kirche zum Dienstleistungsunternehmen auf dem Ritualmarkt?

Sonego Mettner: Das ist sehr überspitzt formuliert. Aber ein Stück weit sind wir Dienstleisterinnen. Die Teilrevision garantiert, dass Paare, Tauffamilien und Hinterblie­bene nicht einfach abgewimmelt werden. Es ist in meiner Verantwortung als Pfarrerin zu klären, ob für ein Hochzeitspaar der Segen Gottes wirklich wichtig ist. Wenn ja, kann ich sie doch getrost am See trauen.

Als Liberaler müssten Sie die Liberalisierung eigentlich unterstützen.

Stäheli: Die Kirche sollte nicht dem Zeitgeist nachgeben und Hochzeiten zu Events machen. Die Änderung in der Teilrevision ist minim, Ausnahmen von der Regel sind jetzt schon möglich. Die Neuerung gibt den Pfarrpersonen jedoch mehr Kompetenzen, ich bin nicht sicher, ob alle dieser Verantwortung gewachsen sind.

Fit für die Fusion in der Stadt Zürich

Die Kirchenordnung ist seit 2010 in Kraft. Sie versammelt Verfassungs­artikel und Gesetze. Der Verfassungs­teil bleibt mit der von der Synode mit klarer Mehrheit verabschiedeten Teilrevision unangetastet. Mit den neuen Artikeln will der Kirchenrat vor allem den geordneten Vollzug von Gemeindezusammenschlüssen, wie sie die laufende Strukturreform vorsieht, ermöglichen. Zudem werden die Voraussetzungen für die vom Volk bereits beschlossene Fusion in der Stadt Zürich geschaffen. Über die Teilrevi­sion der Kirchenordnung stimmen die Reformierten im Kanton am 23. September ab. Stimmberechtigt sind alle Kirchenmitglieder ab 16 Jahren.