Recherche 25. Juli 2022, von Felix Reich

«Zeigt, dass die Kirche euch braucht»

Kirchenentwicklung

Die Zürcher Synode ermöglicht die Unterstützung neuer Gemeinschaften ohne eigenes Territorium. Kirchenrat Andrea Bianca sagt, warum solche Start-up-Kirchen eine Bereicherung sind.

Es gibt die Waldenser, die spanischsprachige Gemeinde, die französische Kirche. Warum braucht die reformierte Kirche noch mehr kleine Gemeinschaften, wo doch der Kirchenrat mit seiner Strukturreform Gemeinden zur Fusion animiert?

Andrea Bianca: Weil es mehr Faktoren gibt als Sprache und Kultur, die verbindend wirken: ein Musikstil, eine bestimmte Form der Spiritualität oder des Gottesdienstfeierns. Kirchgemeinschaften müssen nicht alle Aufgaben einer Kirchgemeinde erfüllen. Deshalb stehen sie auch nicht quer zur Strukturreform.

Doch besteht nicht die Gefahr der Spaltung? Stört sich eine Bibelgruppe an der Theologie der Pfarrerin, sucht sie halt den Alleingang.

Eine Gemeinschaft braucht mindestens 150 Mitglieder. Dafür reicht eine Bibelgruppe schon einmal nicht. Bei der Ausarbeitung der Kriterien wird es aber tatsächlich darum gehen, Spaltungen zu verhindern. Die Landeskirche hat schon immer unterschiedliche theologische Profile vereint. Theologische Konflikte dürfen kein Motiv dafür sein, eine eigene Kirchgemeinschaft zu gründen.

Andrea Bianca (61)

Andrea Bianca (61)

Seit 2007 ist Andrea Bianca Mitglied des Kirchenrats der reformierten Landeskirche im Kanton Zürich. Der Vizepräsident leitet das Ressort «Mitgliedschaft und Lebenswelten». Seit 1996 ist er Pfarrer in Küsnacht. Am Abend nach dem Entscheid der Synode, die Anerkennung innovativer Gemeinschaften zu ermöglichen, verkündete er in den sozialen Medien die Gründung der Nightchurch.

Sie lancierten nach dem Entscheid der Synode gleich die Nightchurch. Warum setzen Sie die Idee nicht in Küsnacht um, wo Sie Pfarrer sind?

Die Nightchurch ist mehr als ein lokales Projekt. Kirchgemeinschaften müssen über Gemeindegrenzen hinaus wirken. Die Anlässe der Nightchurch könnten in verschiedenen Städten stattfinden. Und insbesondere Männer suchen eher nach dem Feierabend Gemeinschaft und Spiritualität. Es fällt ihnen leichter, bei einem Bier oder einem Glas Wein über Glaubensfragen zu sprechen.

Für einen Stammtisch, an dem über Gott und die Welt diskutiert wird, braucht es doch die Kirche nicht.

Stimmt. Geselligkeit oder auch diakonisches Engagement allein reichen nicht aus. In einer Kirchgemeinde ist das anders. Da kann ich getrost ein Projekt in der Männerarbeit oder in der Flüchtlingshilfe aufziehen, ohne dass der Glaube explizit thematisiert wird. Verkündigung und Bibelarbeit werden durch andere Angebote abgedeckt.

Was macht eine Gemeinschaft wie die Nightchurch denn zur Kirche?

Bei aller Innovationsfreude bin ich da konservativ: In der Kirche geht es um Gott. Diesen Anspruch müssen Kirchgemeinschaften einlösen. 

Was passiert, wenn eine Kirchgemeinde eine neu entstehende Gemeinschaft als Konkurrenz sieht?

Eine Gemeinschaft kann Konkurrenz oder Bereicherung sein. Bisher ist es so, dass eine Idee gestorben ist, wenn sie in einer Gemeinde nicht realisiert werden kann. Nun öffnet die Landeskirche eine Tür, indem sie sagt: «Probiert eure Idee aus, zeigt, dass es euch braucht.»

Mit dem Mut zum Scheitern?

Ganz genau. Was sich bewährt, erhält Unterstützung. Wer es nicht schafft, hat es wenigstens versucht.

Und wenn es gelingt, wächst die Kirche, statt zu schrumpfen?

Ohne den Glauben, dass Wachstum möglich ist, können wir nicht Kirche sein. Wachstum bedeutet, dass wir Menschen neu von der Art, wie wir in der reformierten Kirche den Glauben an Gott leben, überzeugen können. Daher müssen neue Kirchgemeinschaften jene grosse Mehrheit der Mitglieder im Blick haben, welche die Kirche mit ihren Angeboten heute nicht erreicht.

Vielleicht ist diesen Mitgliedern aber ganz wohl in der Distanz.

Und diese Form der stillen Verbundenheit müssen wir nicht nur akzeptieren, sondern wertschätzen. Trotzdem glaube ich, dass es Leute gibt, die an Gemeinschaft und Spiritualität interessiert wären, sich aber bisher nicht abgeholt fühlten.

Kirchliche Vielfalt und kantonale Ombudsstelle

Am 12. Juli hat die reformierte Synode die Teilrevision der Kirchenordnung abgeschlossen. Nach vier Jahren können Kirchgemeinschaften, die über ein Gemeindegebiet hinaus Menschen ansprechen, eine Anerkennung durch die Landeskirche beantragen. Sie brauchen mindestens 150 Mitglieder. Darüber hinaus will die Landeskirche mit dem Innovationskredit einzelne Projekte unterstützen. Kirchenrätin Mar­grit Hugentobler verwies auf den in der Kirchenordnung verankerten Auftrag, «die kirchliche Vielfalt gezielt zu fördern». Ausserdem entschied die Synode, die Aufgaben der neu zu schaffenden kirchlichen Ombudsstelle der kantonalen, bereits bestehenden Ombudsstelle zu übertragen.

Angebote hat die Kirche genug.Das Problem ist vielmehr, dass sie zuweilen schlecht besucht sind.

Die Kirche wird in Zukunft nicht mehr Geld zur Verfügung haben. Es gibt zwangsläufig eine Verschiebung der Mittel, wenn Kirchgemeinschaften erfolgreich sind. Allerdings wird der grösste Teil der Gelder weiterhin in den Service public der Kirchgemeinden fliessen. Die innovativen Gemeinschaften können sich stärker fokussieren. Sie dürfen zum Beispiel konsequent auf christlichen Heavy Metal, Jazz oder Gospel setzen und sich so an einem klar definierten Zielpublikum orientieren.

Und abgesehen von der Musik?

Der Bereich der Körperarbeit liegt weitgehend brach. Ich kann mir eine Yoga-Kirche vorstellen, die auf den christlichen Wurzeln der Meditation und Mystik aufbaut. Oder eine Kirchgemeinschaft, die Sport mit Spiritualität verbindet.

Eine Marathon-Kirche?

Warum nicht? Für viele Leute haben Sport und Unterwegssein in der Natur eine spirituelle Dimension.

Zurzeit wird ein Innovationskonzept erarbeitet. Sind Sie schon zufrieden, wenn es gelingt, Hindernisse für neue Ideen zu beseitigen?

Nein. Hürden für Innovation abzubauen, ist wichtig, doch ich erhoffe mir mehr. Die Jesus-Bewegung war eine einzige Innovation des Judentums. Innovation ist für die Kirche existenziell. Gestartet ist das Innovationskonzept mit einer qualitativen Umfrage bei Kirchgemeinden. Nun haben Akteure aus verschiedenen Berufsgruppen gemeinsam daran gearbeitet. Im Herbst soll das Innovationskonzept dann in die Synode kommen.