Tim Krohn
Kindermund 25. März 2022, von Tim Krohn

Alles blau und gelb oder willkommen in der Pampa

Kindermund

Bigna hat die Gäste aus der Ferienwohnung quittiert, weil der Platz für Füchtlinge gebraucht werde. Das sollten alle so machen, findet sie. Dann wäre Müstair nicht mehr Pampa.

Seit Bignas Mutter Chatrina eine Ferienwohnung unterhält, trägt ihr Häuschen einen Namen: Chasa Bigna. Seither betrachtet Bigna das Häuschen als ihr Eigentum. Jedenfalls behauptete Chatrina das, als sie gestern bei uns Sturm klingelte und entsetzt erzählte, dass Bigna ihre Feriengäste rausgeschmissen habe. «Sie hat ihnen gesagt, es ist jetzt keine Zeit für Ferien, weil Millionen Flüchtlinge ein neues Zuhause brauchen. Gib zu, das hast du ihr eingeredet!» «Haben wir nicht», beteuerte ich. «Wo ist sie denn jetzt?»

Bigna sass vor ihrem Haus und malte den Zaun mit Strassenkreide blau-gelb an. «Deine Mutter war bei uns», erklärte ich. «Prima, dann hast du ihr bestimmt gesagt, wie der Hase läuft. Ihr habt ja auch eine Menge Platz für Flüchtlinge.» «Natürlich denken Renata und ich auch darüber nach. Wir fragen uns nur, ob wir hier nicht zu abgelegen sind. Müsste ich mein Land im Krieg zurücklassen, dann würde ich in eine Stadt wollen, mög­lichst nah bei den anderen Flüchtlin­gen, nicht mausbeinallein in die Pampa, von wo der Weg nach Hause doppelt so weit ist.»

Bigna wiegte den Kopf: «Das ist möglich, aber wissen können wir es nicht. Wir sind nun mal keine Flüchtlinge und wissen nicht, wie sie ticken.» Da musste ich ihr recht geben. «Dazu kommt aber, dass ihr das Geld von den Feriengästen braucht, um der Bank die Zinsen aufs Haus zu zahlen, und bei uns ist das ähnlich. Zahlen wir die Zinsen nicht, verlieren wir das Haus, und alle sitzen auf der Strasse.» Bigna sah mich gross an. «Daran hatte ich nicht gedacht! Aber vielleicht lässt die Bank uns ja auch so lange gratis wohnen. Oder jemand zahlt auch für die Flüchtlinge eine Miete. Jedenfalls können wir doch nicht einfach nichts tun!»

Nein, das wollte ich auch nicht. Ich googelte «Gastfamilien Flüchtlingshilfe Ukraine» und wurde sogleich fündig. Bigna rieb sich die Hände. «Und jetzt schreibst du, dass wir Platz haben, nur kein Geld. Und ich gehe von Haus zu Haus und sage allen, dass sie es auch so machen sollen. Dann haben wir nämlich ganz viele Flüchtlinge hier und sind überhaupt nicht Pampa. Was ist eigentlich Pampa?»

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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