Kindermund 26. November 2021, von Tim Krohn

Adventszeit und die fehlende Nase der Sphinx

Kindermund

Ein kaputter Stern im Adventsfenster wäre ein bisschen wie «diese Steintante in Ägypten», die Sphinx, findet Bigna. Doch dann gibt es doch etwas anderes.

Jeden Dezember wird unser Dorf zum Adventskalender. Vierundzwanzig Fenster werden verdeckt und durchnummeriert, dann wird jeden Abend eines enthüllt, und eine Seidenpapiercollage, eine Installation oder eine Hin­ter­glas­malerei erscheint. Ich mache auch immer mit, diesmal hilft mir Bigna. Ich bin froh, denn mir gehen die Ideen aus. Ein Stern­­taler­­mäd­chen unter strahlendem Nachthimmel hatte ich schon, ein Reh nachts im Schnee, drei sin­gende Weihnachtsmänner mit Keksbar, die Heilige Familie nachts im Schnee und ein kleines, warm erleuchtetes Porzellanhäuschen nachts im Schnee.

«Dieses Jahr muss es etwas Besonderes sein», entschied Bigna. «Oh, das war schon alles recht besonders», entgegnete ich. «Meinetwegen, aber diesmal machen wir nicht etwas recht Besonderes, sondern etwas richtig Besonderes.» «Da bin ich ja gespannt.»

Bigna dachte nach. «Jedenfalls was mit Leuchtkerzen, ich liebe Leuchtkerzen.» «Das ist zwar nichts Besonderes, aber bitte sehr.» Ich holte eine Lichterkette aus dem Keller und steckte sie ein. Zwölf Kerzen brannten, drei­zehn nicht. «Die ist ja kaputt!», rief Bigna. «Halb kaputt», sagte ich, «vermutlich nicht mal halb, sondern zu einem Fünfundzwanzigstel. Ver­mut­lich ist die dreizehnte Birne kaputt, und die Kette ist seriell geschaltet. Setzen wir die kaputte ans Ende, leuchten vierundzwanzig.» «Bajader», sagte Bigna, Schwätzer. Aber ich hatte recht.

«Na schön», murrte sie. «Und was tun wir jetzt damit?», fragte ich. «Wir formen natürlich einen Stern, schliesslich ist Advent.» «Aber du wolltest doch etwas Besonderes, Santa Maria ist schon voll von Leuchtsternen.» Jedes Jahr hängen Jon, der Schreiner, und seine Leute Sternengirlanden über die Strasse. «Stimmt.» Bigna dachte nach und wieder­holte: «Stimmt, aber nur unser Stern ist kaputt. Ein bisschen. Und ein bisschen kaputt ist beson­ders schön. Wie meine Zahn­lü­cke. Oder das hinkende Kätzchen von Duonna Lina. Oder diese Stein­­tante in Ägypten.» «Die Sphinx?» Das war ein Argument. Aber nachdem schon in der ersten Woche zwei Sterne enthüllt worden waren, machten wir un­ser Fenster dann doch noch mal neu.

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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