Heute hatte Bigna Bibliothekstag. Dort wurden ihrer Klasse Bücher vorgestellt. Geschichten von tollen, starken Mädchen, die andauernd Streiche spielen und auch mal die Jungs besiegen. «Gute Mädchen kommen in den Himmel», hatte die Bibliothekarin dazu gesagt, «böse Mädchen kommen überallhin.» Worauf Bigna gefragt hatte: «Welche sind denn nun aber die guten, die starken oder die schwachen?» «Victima – du Opfer», hatte einer der Jungs gerufen – das ist in der Schule das neue Modeschimpfwort. Und die Bibliothekarin hatte gesagt: «Das ist es ja eben. Jahrhundertelang hatten Mädchen schwach und angepasst zu sein, langweilige Heulsusen. Das waren die guten. Aber damit ist jetzt Schluss. Seid stark. Seid wild. Getraut euch was.»
«Und wenn ich auch mal schwach sein will?», hatte Bigna gefragt. «Wenn ich gern mal heulen will?» «Victima», schrien jetzt schon mehrere. Tatsächlich heult sie gern mal los, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt, und das kann auch nerven. Aber als sie mir das erzählt hat, war sie tapfer. Ihre Stimme zitterte, und in den Augen glitzerten Tränen, aber sie schaffte es, sie zurückzuhalten.
Ich sagte: «Das Problem kenne ich.» Ich hatte gerade selber eine Geschichte geschrieben, in der ein Mädchen sich im Schneesturm verirrt und vom Grossvater gerettet wird. Worauf der Lektor meinte: «Tolle Geschichte, toll erzählt. Aber man könnte dir vorwerfen, dass du überholte Geschlechterklischees bedienst. Schildere das Mädchen aktiver, lass sie sich selber retten, am besten nach einem Krach mit dem Grossvater, weil er ihr nichts zugetraut hat. Und dann muss er bewundernd zugeben, dass er sie unterschätzt hat.»
«Oh, das ist so was von gemein», rief Bigna aus, «Jungs müssen stark sein, Mädchen müssen stark sein, darf denn überhaupt keiner mehr schwach sein?» «Doch, die Opas», sagte ich. Bigna schäumte. «Stimmt ja nicht mal. In der Werbung sind sie immer ganz fit unterwegs und schmeissen Kinder in die Luft. Weisst du, was ich glaube? Überhaupt keiner darf mehr schwach sein. Und daran, das sage ich dir, wird die Welt zugrunde gehen.»