Kindermund 25. Februar 2024, von Tim Krohn

Die Freiheit, meine Freiheit anderem unterzuordnen

Kindermund

Bigna soll mehr Freiheit haben als die meisten anderen Menschen? Sie ist nicht einverstanden. Sie würde ein anderes Wort auf die Amnesty-Kerze schreiben.

Bigna drehte eine über und über beschriftete Kerze in den Händen und las: «‹Freiheit›. Steht in den anderen Sprachen das Gleiche?» Ich nickte. «Und warum?» «Weil es das ist, was die Leute von Amnesty International allen Menschen wünschen.» «Mir auch?» «Du bist schon frei, freier jedenfalls als die meisten Menschen.» «Ich? Pah! Ich muss in die Schule. Ich muss um sechs zuhause sein. Ich muss im Bus aufstehen, wenn alte Leute einsteigen. Ich ...» «Ja, das stimmt, absolute Freiheit gibt es nicht. Trotzdem hast du viele Freiheiten, nach denen andere sich nur sehnen. Du darfst deine eigene Sprache sprechen. Du darfst, jedenfalls in ein paar Jahren, deine eigene Regierung wählen. Du wirst ar­beiten dürfen ...»

«Dürfen so was nicht alle?» «Oh nein!» «Warum nicht?» «Weil andere Leute glauben, das beschneide wiederum ihre Freiheit.» «Dann gibt es also nicht genug Freiheit für alle?» Ich zögerte. «Vielleicht doch, und die Menschen glauben nur, sie hätten zu wenig.» «Ja, logisch», rief Bigna, «wenn man ihnen von etwas mehr wünscht, haben sie gleich das Gefühl, sie hätten zu wenig. Dann werden sie neidisch aufeinander und prügeln sich. Freiheit ist ein dummer Wunsch. Man ­müsste etwas anderes wünschen, etwas, das nicht macht, dass sie aufeinander einschlagen.»

«Es gibt auch eine innere Freiheit», wandte ich ein, «wer innerlich frei ist, hält es auch aus, im äusseren Leben unfrei zu sein.» Bigna stutzte. «Und wie kriege ich diese innere Freiheit?» «Keine Ahnung, sag du es mir.» Sie dachte lange nach. «Gestern hat Braida Glitzerstifte bekommen, und erst hab ich gedacht, das ist gemein, jetzt kann sie viel schöner malen als ich. Aber dann hab ich ge­sehen, wie sie sich freut, und wollte sie ihr gar nicht mehr weg­nehmen, sondern hab mich mit ihr gefreut. Man wünscht den Leuten besser, dass sie nicht gleich dreinhauen, wenn sie etwas nicht haben.» «Das wäre Fried­fertigkeit.» «Ja. Nein. Warte. Noch besser ist, wenn jeder jeden so gern hat, dass er sich einfach mit ihm freut. Dann haut keiner mehr drein, oder?» «Nein.» «Super. Was ist das Wort dafür?» «Verbundenheit.» «Dann sol­len sie nächstes Jahr ‹Verbundenheit› auf ihre Kerzen schreiben.»

Tim Krohn

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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