Vom Sinn des Sinnlosen und vom Blühen im Verborgenen

Kindermund

Bigna erfährt, was ein Kreuzgang ist, und ist angetan vom Plan für einen solchen im leeren Stall. Für das Zentrum hat sie eine besonders schöne Idee.

Heute ertappte Bigna mich im Garten dabei, wie ich – etwas unge­lenk mit der Linken, weil meine Schreibhand dick bandagiert ist – Vierecke in einen Schreibblock zeichnete. «Das mache ich in der Schule auch, wenn mir langweilig ist. Wobei ich Kreise zeichne.» «Mir ist nicht langweilig. Ich hätte nur gern einen Kreuzgang. Weisst du, was ein Kreuzgang ist?» «Nein.»

Ich erzählte ihr von meiner Handoperation, nach der ich zwei Tage in Chur im Krankenhaus gelegen hatte. Nein, eben nicht gelegen: Um die tägliche Thrombosespritze zu umgehen, hatte ich der Krankenschwester versprochen, viel zu laufen. Nur auf der Abteilung natürlich. Und weil im Flur wenig Platz war, ging ich immer den schmalen Gang um den Liftschacht herum. Dort war kein Mensch, es war still, warm und leer. Unten ein sonnengelber Fussboden, darüber weisse Wände und Decken, etwas Kunst und zwei unbenutzte Spitalbetten. Diese Leere tat mir gut, und wäre ich nicht von der Narkose noch so müde gewesen, hätte ich stundenlang im Kreis gehen mögen. Oder eben im Viereck.

«Mich beruhigt es auch, wenn ich Kreise zeichne», stellte Bigna fest. Renata, die gerade mit dem Baby in den Garten kam, lachte spröde. «Ihn beruhigt es nicht, im Gegenteil. Eigentlich wollten wir es nach seiner OP ruhiger nehmen, stattdessen plant er schon das nächste Projekt.» «Einen Liftschacht?» Bigna strahlte. «Nein, mehr einen Kreuzgang wie in einem Kloster», sagte ich. «Einen schönen, stillen Ort, an dem man endlos gehen kann, ohne irgendwo ankommen zu müssen.»

«Als hätten wir hier nicht die schöns­ten Spazierwege», warf Renata bitter ein. «Aber die sind alle irgendwann zu Ende», erwi­der­­te ich. «Das Gehen in einem Kreuzgang ist ganz anders.» «Du kennst nur das Gehen um einen Liftschacht», erinnerte sie mich spöttisch. «Wo willst du ihn denn bauen?», fragte Bigna. «Im leeren Stall, ich habe nur noch keine Ahnung, wie. Man müsste ja etwas reinbauen, um das man he­rum­gehen kann. Aber was?» «Einen Lift», frotzelte Renata, und Bigna sagte: «Ein Gewächshaus.» Ich stutzte. «Wieso ein Gewächshaus?» Sie antwortete nur: «Weil es schön wäre.» Oh ja, ein Gewächshaus wäre schön.

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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