Was braucht es zum Leben und was zum Überleben?

Kindermund

Wer nicht viel hat, dem kann man wenig nehmen. Das hat Bigna gelernt – von Natalja, einem der ukrainischen Kinder im Dorf.

In den alten Häusern der Val Müstair sind viele Zimmer ganz in Arve oder Fichte gehalten – Boden, Wände, Decke – und dazu recht niedrig. Manche Decken werden durch einen Mittelbalken getragen, was sie noch niedriger macht. Dazu kommen kleine Fenster und schmale Gassen. Es ist nicht leicht, diese Räume genügend zu beleuchten. Vor allem im Winter neigt man hier zur Depression. Wir haben allerdings für die meisten Zimmer unseres Hauses gute Lösungen gefunden. Als ich heute im Garten mit einer Freundin darüber sprach, hörte Bigna zu.

Als die Freundin weg war, sagte sie: «Ihr habt lauter Unsinn geredet. Und es stimmt auch nicht, dass ihr bei euch gutes Licht habt. Wir haben zu Hause immer nur eine kleine Lampe am Balken in der Mitte, das gibt das beste Licht.» Ich schüttelte den Kopf. «Vielleicht, wann man eine besonders helle Glühbirne nimmt. Aber wenn man so gross ist wie ich, ist die Glühbirne auf Augenhöhe und blendet dann furchtbar.» «Man nimmt natürlich keine helle.» «Keine helle? Aber die dunklen Wände schlucken furchtbar viel Licht.» «Genau, und je heller die Birne, um so mehr schlucken sie. Wenn du eine schwache nimmst, schlucken sie fast nichts.» «Ja, weil es nichts mehr zu schlucken gibt!», rief ich.

«Eben», sagte Bigna überzeugt, «es ist wie mit den reichen Menschen und den armen. Wenn du einen reichen beklaust, kannst du richtig viel klauen, und dann ist er arm, und es ist furchtbar schlimm für ihn. Einem armen kannst du fast nichts klauen, und deshalb wird er auch fast nicht ärmer, und es ist ihm egal.» Ich lachte überfordert auf. «Vielleicht hast du recht, was das Geld angeht. Aber ohne Licht gehen wir Menschen ein wie Pflänzchen.»

Bigna fragte: «Gehe ich etwa ein wie ein Pflänzchen? Oder wenn du einem das Bein abschneidest, der immer gesund war, ist das für ihn ganz schlimm. Aber wenn er schon ein Bein abhatte oder einen Arm, sagt er sich: Solange ich den Kopf habe und vielleicht den Bauch, kann ich leben.» «Wie bist denn du heute drauf», rief ich. «Das habe ich von Natalia gelernt», sagte sie. Natalia ist eines der ukrainischen Kinder im Dorf. 

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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