Wenn Worte leuchten wie die Sterne am Himmel

Kindermund

Wie schreibt man über Schönheit? Und: «Wie sieht eigentlich die Schönheit aus? Schöne Sachen können leuchten, aber die Schönheit, gibt es die überhaupt?», fragt Bigna.

Als ich im Garten über der Arbeit einer Schreibstudentin brütete, tauchte plötzlich Bignas Gesicht hinter dem Bildschirm auf. «Du stöhnst wie ein Ochse», stellte sie fest. «Kunststück, ich habe hier einen Text, den ich nicht verstehe.» «Lies vor, ich helfe dir.» «Du?» «Tu nicht so, ich habe dir schon oft geholfen.» «Na schön, ich lese dir einen Satz vor: ‹Der Nachthimmel hatte ein spezielles Blau, und die Sterne schienen so intensiv auf mich herab, dass ich mich ganz im Moment fühlte und die Schönheit vor meinen Augen leuchten sah.››»

Bigna stöhnte auch. «Spezielles Blau, was soll denn das heissen?» «Ja, eben», sagte ich, «welche Farbe hat für dich der Nachthimmel?» Bigna überlegte. «Kommt darauf an. Wenn Schnee liegt, ist er schwarz, und wo der Mond scheint, ist er gelb. Aber wenn ein Wind weht, ist über allem ein Nebel, wie auf Nonas Augen.» Bignas Nona litt an grauem Star. «Danke, das kann ich mir vorstellen. Und im Sommer?» «Da wird es gar nie richtig dunkel.» «Oder je­denfalls nicht, bevor du ins Bett musst. Und was stellst du dir unter intensivem Sternenleuchten vor?» «Nichts. Manchmal sind es viele Sterne, manchmal nicht so viele. Wenn der Himmel nicht ganz schwarz ist, sind es weniger. Aber ich glaube, es sind sowieso Planeten, die so fest leuchten, gar keine Sterne.»

Ich notierte alles und las weiter: «‹... dass ich mich ganz im Moment fühlte.›» «Das verstehe ich nicht.» «Im Moment sein heisst, dass ich an nichts denke als an das, was gerade ist.» «Ja, das kenne ich. Aber dann denke ich doch auch nicht daran, wie ich denke. Wenn der Himmel so schön ist, denke ich nur an den Himmel.» «Verstehe.» Ich notierte, dann las ich: «‹... und die Schönheit vor meinen Augen leuchten sah.›» Bigna grinste. «Wo soll sie sie denn sonst sehen, wenn nicht vor den Augen? Und überhaupt, wie sieht eigentlich die Schönheit aus? Schöne Sachen können leuchten, aber die Schönheit, gibt es die überhaupt?»

Ich notierte alles und wünschte, meine Studentin wäre hier. «Und wie wäre der Satz besser?» «Keine Ahnung», sagte Bigna, «vielleicht so: ‹Es war Nacht, die Sterne schienen. Das war schön.›»

Tim Krohn

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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