Meinung 28. Juli 2022, von Michail Schischkin

Pakt gegen Christus

Gastbeitrag

Die Nähe der russisch-orthodoxen Kirche zur Macht entspringe einer langen Tradition, schreibt der Schriftsteller Michail Schischkin. Das Evangelium blieb dabei auf der Strecke.

«Das Unglück des Vaterlandes besteht darin, dass wir nicht den römisch-katholischen, sondern den byzantinisch-orthodoxen Glauben angenommen und uns damit von Europa und seiner historischen Entwicklung abgeschnitten haben.» Mit diesen Worten des politischen Philosophen Pjotr Tschaadajew aus dem «Philosophischen Brief» (1836) begann die Spaltung im russischen Bewusstsein, jener Ideenkampf, der bis heute andauert und im Ukraine-Krieg seinen Widerhall findet.

«Russische Europäer» sahen die Zukunft ihres Landes in der Bildung und sozialen Reformen. Ihre Gegner argumentierten, solche gesellschaftliche Umwälzungen führten zu Revolutionen, Chaos und Blutvergiessen. Sie hofften, den russischen Menschen innerlich zu verbessern durch den Glauben, wie ihn die orthodoxe Kirche predigte. 

Durch den Dreck gezogen

«Russland braucht keine Predigt (davon hat es genug gehört), keine Gebete (auch davon gab es genug), sondern das Erwachen eines Gefühls der Menschenwürde, die viele Jahrhunderte durch den Dreck gezogen wurde, des Rechts und des Gesetzes, nicht wie die Kirche es vorschreibt, sondern gemäss dem gesunden Menschenverstand und der Gerechtigkeit, und eine strenge Ausführung dieser Gesetze. Stattdessen bietet Russland den schrecklichen Anblick eines Landes, wo es nicht nur keinerlei Persönlichkeitsrechte gibt, keinerlei Garantien für Ehre und Eigentum, sondern nicht einmal eine polizeiliche Ordnung. Es gibt nur einen riesigen Zusammenschluss von Dieben und Räubern.»

Was nach einem Zitat von einem antiputinschen Blogger tönt, steht in einem 1847 verfassten Brief des Philosophen und Publizisten Wissarion Belinski an Nikolai Gogol.

Christus gibt niemanden verloren

Eine Wende wollte auch Gogol. Aber er sah die Rettung im Glauben. Der russische Mensch, und sei er so nichtig und widerlich wie die Romanfigur Tschitschikow, kann in sich Christus finden und durch Demut und Leiden neu geboren werden. Nur so gelinge Russlands Umgestaltung. 

Und nichts weniger beabsichtigte der Schriftsteller mit seinem Werk: die christliche Wiedergeburt des Menschen. Der Schurke und Gauner Tschitschikow sollte im dritten, ungeschriebenen Band der «Toten Seelen» durch die Leiden in der sibirischen Katorga zu seiner Neugeburt in Christo kommen. Ohne innere Verklärung wird es keine soziale Transformation geben.

Die gescheiterte Wiedergeburt

An Belinski schrieb Gogol: «Wir müssen den Menschen daran erinnern, dass er kein Vieh ist, sondern der hohe Bürger eines himmlischen Reiches. Solange er nicht das Leben eines himmlischen Bürgers lebt, wird auch auf der Erde keine Ordnung einkehren.» Gogol scheiterte, verbrannte sogar den zweiten Band. 

Der Autor

Michail Schischkin zählt zu den von der Kritik am besten besprochenen russischen Autoren der Gegenwart. Er wurde 1961 in Moskau geboren, studierte Linguistik und arbeitete als Deutschlehrer und Journalist. Seit 1995 lebt er in der Schweiz.

Schischkin ist der einzige Schriftsteller, der alle drei wichtigen Literaturpreise Russlands erhielt. 2011 wurde ihm der Internationale Literaturpreis Haus der Kulturen der Welt in Berlin verliehen. Sein Roman «Die Eroberung von Ismail» wurde 2000 mit dem Booker-Prize für das beste russische Buch des Jahres ausgezeichnet und gilt als sein kompromisslosestes Werk. Zuletzt erschien von ihm «Tote Seelen, lebende Nasen» (Petit-Lucelle).

Fjodor Dostojewski folgte Gogol: Keine Verfassung, keine demokratische Umwälzung, keine Revolution verheisst Rettung. Zuerst muss Christus in der eigenen Seele gefunden werden, bevor die Gesellschaft verbessert werden kann. Dostojewskis Schaffen ist der kaum bewusste Versuch, den dritten Band der «Toten Seelen» zu schreiben.

Seine Bücher wollen den Weg zu Christus aufzeigen und den toten Seelen neues Leben einhauchen. Vollziehen sollte sich die Neugeburt des Menschen in der orthodoxen Kirche. 

Ideologie für den Krieg

Der Weg zu Christus führte jene, die nach ihm suchten, aber nicht zur Kirche. Schriftsteller Leo Tolstoi wurde exkommuniziert. Für ihn war klar, in der russischen Kirche ist Christus nicht zu finden. 

Seit Jahrhunderten hatte die Moskauer Kirche wichtigere Aufgaben, als Christus zu dienen. Sie leistete dem Zarenreich, das gegen alle Nachbarn Krieg führte, intellektuelle Unterstützung, die Orthodoxie bot sich als Kampfbanner an. Dienstfertig wurde eine messianische Kriegsideologie erarbeitet, Moskau verwandelte sich ins «Dritte Rom». Das Moskauer Reich galt als Abbild des Himmelreiches auf Erden.

Das letzte Rom

Ein halbes Jahrhundert nachdem die Türken Byzanz erobert hatten, schrieb der Mönch Filofei: «Schau und habe acht, frommer Zar, alle christlichen Reiche sind vergangen und sind zusammen übergegangen in Dein Eines Reich. Denn zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein viertes wird es nicht geben.» Nun war «Russki mir», die russische Welt, perfekt.

Während in Europa Renaissance und Reformation den menschlichen Geist beflügelten, erhob sich im Osten ein Kampfreich, das die eigene Nation als Armee missbrauchte. Alleinherrschaft und Einmütigkeit sind seither seine Koordinaten. Das einzige Ziel ist der Sieg über die Feinde. Im Krieg mit der ganzen Welt ist Expansion die beste Verteidigung.

Gedankenfreiheit als Meuterei

Dieser Staatsraison entsprechend, erschöpft sich der Sinn des Lebens für den Einzelnen darin, dem Russischen Reich zu dienen. Sein höchstes Glück? Für das Vaterland zu sterben. Die Kommandeure werden nicht gewählt, Befehle nicht hinterfragt.

Jedes Aufscheinen persönlicher Initiative, jedes Zünden eines freien Gedankens gilt als Meuterei. Jede Äusserung des Missfallens, sei sie auch noch so gerechtfertigt, kommt einem Verrat gleich.

Kirche im Dienst der Repression

Zar Peter I. machte die Kirche 1721 auch offiziell zum Instrument seiner Diktatur: Das Beichtgeheimnis wurde abgeschafft, der Priester musste seine Schäfchen bei den Strafbehörden denunzieren, wie es später in der Sowjetunion der Fall war. Zeigte der Pope den unvorsichtigen Gläubigen nicht an, wurde er selber bestraft.

Die orthodoxe Kirche deckte stets das patriarchale russische Machtsystem ideologisch. Diese uralte Gesellschaftsform der russischen Autokratie wird seit Jahrhunderten im Reservat der Geschichte konserviert. Sie wirft ihre Haut ab und kehrt mit einem neuen Avatar zurück, mal als das Moskauer Zarentum, als Romanows Imperium, als Stalins kommunistische Sowjetunion, unlängst als Putins «gelenkte Demokratie».

Mit Jesus im Gefängnis

Als die Scheindemokratie den Scheinsozialismus ersetzte, verwandelten sich die treuen Kommunisten in imposante Banker, überzeugte Atheisten konvertierten zu frommen Kirchgängern. Die Kirche nahm gern ihre alte Rolle eines Pfeilers der Macht ein.Die Moskauer Orthodoxie hat mit jeder Version des repressiven Staatsapparats einen Pakt gegen Christus geschlossen. 

Putin-Kritiker Alexei Nawalny zitierte vor Gericht die Bergpredigt: «Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit – sie werden gesättigt werden» (Mt 5,6). Aber warum auf Worte Christi hören? Christus hätte die Spezialoperation Putins nicht unterstützt, auch er ginge heute ins Gefängnis.

Naive Fragen

Wen wundert es, dass Patriarch Kyrill Gundjajew zunächst Karriere beim Geheimdienst KGB gemacht hat? Statt Friedensbotschaften predigt er Loyalität gegenüber dem verbrecherischen Regime und Hass auf den Westen. Die Kirche ist nur ein Instrument des Staates und eine Waffe im «hybriden Krieg» gegen die Welt. 

Widerspricht die Haltung der russischen Kirche zu Putins Kriegsverbrechen nicht jeglicher christlichen Lehre? Müsste die Kirche nicht versöhnen, menschliches Leben retten? 

Die Fragen sind naiv. Es war immer schon Aufgabe der russischen Kirche, nicht dem Menschen, nicht Christus, sondern der Macht zu dienen. Sie war jahrhundertelang organischer Bestandteil eines totalitären Unterdrückungsregimes, und ihre Aufgabe besteht weiterhin darin, der Macht hörige Sklaven zu produzieren.

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