Recherche 28. März 2022, von Mayk Wendt

Wer die Hilfsgüter zu den Menschen in Not bringt

Nothilfe

Die Schweiz hat bisher humanitäre Hilfsgüter im Wert von 80 Millionen Franken für die Ukraine bereitgestellt. Die Reportage beschreibt, wie das Material ins Kriegsgebiet gelangt.

«Zuerst die Lebensmittel und Medikamente!», ruft der junge Ukrainer mit der Schirmmütze und dem Mobiltelefon in der Hand. Der Chauffeur des Lastwagens nickt zustimmend. 

Mehrere vierachsige Sattelschlepper stehen auf dem Gelände eines Unternehmers unmittelbar an der ukrainischen Grenze im polnischen Przemyśl. Man kennt die langen Lastwagen von der Autobahn: Mit Tempo 80 reihen sie sich jeweils auf der rechten Fahrspur hintereinander.

Eine der drei Lagerhallen auf dem Gelände ist gefüllt mit unzähligen Paletten, auf denen sich Schachteln mit Lebensmitteln wie Kartoffeln, Zwiebeln und Karotten, sowie mit Medikamenten stapeln. Kleider, Decken und Schlafsäcke befinden sich im hinteren Teil der Halle. Die anderen zwei Hallen werden in den darauffolgenden Tagen ebenfalls mit Hilfsgütern aus ganz Europa vollgestopft sein.

Roman Kolomiits ist der 33-jährige Mann mit der Schirmmütze und dem Mobiltelefon, dessen Leben sich in der vergangenen Woche komplett verändert hat. Genau wie das seiner 41 Millionen Landsleute. 

Roman lebt seit drei Jahren in Litauen. Mit Beginn des Krieges hat er seine Mutter aus der Ukraine geholt. Er und seine Familie kommen aus Tschernihiw, eine Stadt nördlich von Kiew mit 300 000 Einwohnern. Die Stadt ist durch das dort befindliche Operative Armeekommando Nord ein bedeutender Standort der ukrainischen Armee und in diesen Tagen besonders stark von den russischen Angriffen getroffen worden.

Seine Tätigkeit als Autohändler liess Roman ruhen und fuhr fortan mit seinem Auto regelmässig mit Hilfsgütern an die Grenze. Er organisierte  mehrere kleine Lieferwagen, die zwischen Litauen und dem polnisch-ukrainischen Grenzgebiet pendelten. Mit jedem neuen Tag und weiteren Bombenangriffen wurde Hilfe für seine Stadt dringender.

Das war vor zwei Wochen. Mittlerweile ist Roman permanent im Grenzgebiet. Wöchentlich verlassen jetzt mindestens drei Sattelschlepper mit 30 bis 40 Tonnen humanitären Hilfsgütern, wie Lebensmitteln und Medikamenten,  das Gelände in Przemyśl in Richtung Nordukraine. Roman organisiert das alles.

Oksana Sgier kommt genau wie Roman ursprünglich auch aus Tschernihiw. Inzwischen lebt sie aber seit mehr als zehn Jahren in Landquart in Graubünden. Ihre Mutter lebte bis vor wenigen Tagen noch in Tschernihiw, der zerbombten Stadt im Norden des Landes. 

Sgier engagiert sich seit Kriegsbeginn in dem Verein «Ukraine Hilfe Graubünden» und hat dafür sogar ihre Ausbildung im Pflegebereich unterbrochen. «Es braucht jetzt alle Ukrainerinnen und Ukrainer», sagt sie. Der Verein zählt zu einer der vielen Privatinitiativen in der Schweiz, die sich nach Kriegsausbruch gegründet haben.

Von verschiedenen Sammelstellen aus dem gesamten Kanton werden unter anderem Hygieneartikel, Medikamente, Babynahrung und Kleider gesammelt, auf Paletten sortiert, anschliessend auf ukrainisch und russisch angeschrieben. Dann wird der Transport ins polnische Przemyśl koordiniert von wo aus die Waren direkt in die betroffenen Kriegsgebiete verteilt werden. 

Die ersten Güter wurden zur Botschaft der Ukraine nach Bern gefahren und der Weitertransport von dort gesteuert. «Dann hat sich aber der Kontakt zu Roman ergeben», erklärt Oksana weiter. Kontakte und Netzwerke sind in diesen Zeiten für die ukrainischen Menschen wichtiger denn je. Ob auf der Flucht aus dem Land heraus oder für den Hilfstransport ins Land hinein. Ein Grund, warum Oksana Sgier die 1500 Kilometer von Landquart an die ukrainische Grenze zurückgelegt hat. Sie wollte sicher gehen, dass die Bündner Spenden ankommen und vor allem vor Ort sehen, was dringend benötigt wird. Bis jetzt sind alle von Roman organisierten Transporte in Tschernihiw angekommen.

Der Unternehmer auf dessen Gelände sich die Lagerhallen in Przemyśl befinden, ist ebenfalls Ukrainer. Roman kannte ihn von früher. «Ich rief ihn an und sagte, ich brauche Platz für Waren», erinnert er sich.

Ende letzten Jahres traf er auch Landsmann Oleksandar Hrebinnyk. Der 37- jährige Lastwagenchauffeur fuhr gerade Waren von Belarus nach Kaunas in Litauen. Ihn kontaktierte Roman, um weitere Lastwagenfahrer ausfindig zu machen, die bereit sind, die dreitägige Fahrt nach Tschernihiw zu wagen. Häufig spricht Roman die Fahrer auf einem der Parkplätze im Grenzgebiet direkt an. So kam er mit Andriy Yucshenko und Serhii Kabrel in Kontakt. Mit ihren zwei Sattelschleppern und mehr als 60 Tonnen Hilfsgütern machten sie sich kurz darauf auf den Weg ins Kriegsgebiet.

Einen Lohn kann Roman dafür nicht zahlen. «Ich zahle nur die Tankfüllung», sagt er. Das sind in diesen Tagen rund 700 Euro. Ausserdem klärt Roman mögliche Transportwege ab und organisiert ebenso die Lagerung beim Ankunftsort. Das Abladen der Waren wird von den Fahrern gefilmt und fotografiert. So ist Roman immer auf den aktuellen Stand. 

Täglich kommen neue Waren an. Italiener, die mehrere Lieferwagen voll mit Pasta und Medikamenten bringen. Deutsche Helfer mit Kartoffeln und Kleidern. Belgier und Schweden laden ebenso Waren aus. Sie alle haben das Wochenende für die Fahrt genutzt und Tausende von Kilometern hinter sich gelassen, um zu helfen.

«Jeder tut was er kann», zeigt sich Roman von der grossen Solidarität beeindruckt. Ins Gespräch kommt man mit Roman nur kurz, da er permanent am Telefon ist. Ankommende Transporte müssen navigiert werden, die nächsten Fahrer werden gesucht und Informationen direkt aus dem Krisengebiet entgegengenommen.

«Wir müssen Stromgeneratoren schicken», ruft er Oleksadr zu. Strom, Gas und Wasser gäbe es in Tschernihiw nun nicht mehr. Oleksandr durchsucht zahlreiche Kisten, kann aber keine Generatoren entdecken. Neben Lebensmitteln und Medikamenten haben nun auch Powerbanks, Batterien und Taschenlampen Priorität. 

Eine Gruppe von Künstlern aus Berlin hält zufällig an und fragt, wie sie helfen können. «Wir brauchen Generatoren», antwortet Roman. Kurzerhand geben sie ihm direkt 600 Euro für den Stromerzeuger in die Hand. Eine andere Kiste, verziert mit einem gelb-blauen Herz wird besonders sorgfältig aufgeladen. 

«Das ist pures Gold», sagt Roman mit bedächtiger Stimme. Mehrere Funkgeräte befinden sich in der Schachtel. «Irgendwann auf dem Weg wird es keinen Mobilfunkempfang geben», erklärt er. «So aber können die Fahrer wenigsten untereinander kommunizieren und auf mögliche Gefahrenzonen hinweisen.»

Die an Fahrer Andriy gerichtete Frage kurz vor seiner Abreise, warum sie sich der Gefahr aussetze, beantwortet der zweifache Familienvater mit einer Gegenfrage. «Wer soll es denn sonst machen?»

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