Recherche 20. April 2022, von Marius Schären

Die Solidarität, die Standard sein sollte

Asyl

Der Schutzstatus S für Geflüchtete aus der Ukraine ist gerechtfertigt – aber auch ungerecht. So sehen es Betroffene selbst und Fachleute, die mit Flüchtlingen arbeiten.

«Es ist kompliziert. Ich fühle mit ihnen mit. Anderseits spüre ich Eifersucht, da ihr Leben so viel einfacher ist als meines, als ich in die Schweiz kam», sagt der Syrer Fatima al-Damaski (Name geändert). Für die Menschen aus der Ukraine gibt es ein öffentliches Willkommenheissen, schnelles Asylverfahren, sie dürfen den Kanton frei wählen, wo sie wohnen wollen, erhalten Arbeitserlaubnis, Familiennachzug.

Al-Damaski stellt fest: «Das System muss nicht herzlos sein, und der Fall der Ukrainer zeigt uns, dass es eben genau auch so geht: wilkommen heissend.» Und doch seien es weniger die Flüchtlinge, die frustriert seien über die unterschiedlichen Standards, sondern eher die Menschenrechtsaktivistinnen, die Anwälte, die Beraterinnen in den Asylzentren.

Kein Vorwurf an die Solidarischen

Esther Oester ist als Gründerin und Vorstandsmitglied des Vereins Paxion eine dieser Fachpersonen. Paxion besteht aus Geflüchteten und Fachleuten der psychischen Gesundheit, die sich für eine pluralistische Gesellschaft und politische Partizipation einsetzen. Sie wollen niederschwellige psychosoziale Beratung für Geflüchtete etablieren, da diese sehr oft durch traumatische Erlebnisse belastet sind.

Wie Geflüchtete in der Schweiz eingeteilt werden – eine Übersicht von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe

Asylsuchende

erhalten eine Bestätigung, solange sie im Bundesasylzentrum sind. Sobald sie einem Kanton zugewiesen werden, erhalten sie einen N-Ausweis. Dieser ist keine Aufenthaltsbewilligung, sondern eine Bestätigung, dass die betreffende Person in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt hat und auf einen Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM) wartet.

Anerkannte Flüchtlinge (Asylgewährung)

sind Menschen, die glaubhaft dargelegt haben, dass sie im Herkunftsstaat in asylrechtlich relevanter Weise gemäss Genfer Flüchtlingskonvention verfolgt sind. Sie erhalten Asyl und einen B-Ausweis.

Anerkannte Flüchtlinge (vorläufige Aufnahme als Flüchtling)

erhalten einen F-Ausweis. Es sind Menschen, die völkerrechtlich die Flüchtlingseigenschaft erfüllen, bei denen aber Asylausschlussgründe gemäss Asylgesetz vorliegen. Daher lehnt das SEM das ihr Gesuch ab und ordnet formal die Wegweisung aus der Schweiz an. Aus völkerrechtlichen Gründen ist gemäss Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention die Wegweisung aber unzulässig. Daher wird der Vollzug der Wegweisung aufgeschoben und die Person wird als Flüchtling vorläufig in der Schweiz aufgenommen.

Vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer

sind asylsuchende Menschen, die in ihrem Herkunftsstaat nicht in asylrelevanter Weise verfolgt werden und die Flüchtlingseigenschaft gemäss Genfer Flüchtlingskonvention nicht erfüllen. Deshalb lehnt das SEM ihr Asylgesuch ab. Kommt es in einem zweiten Schritt aber zu dem Schluss, dass eine Rückkehr in den Herkunftsstaat unzulässig, unzumutbar oder unmöglich ist z.B. weil dort Krieg herrscht und deshalb die Wegweisung nicht vollzogen werden darf, ordnet das SEM die vorläufige Aufnahme an. Die asylsuchende Person erhält einen F-Ausweis als Ausländerin oder Ausländer.

Abgewiesene Asylsuchende

werden in ihrem Herkunftsland nicht in asylrelevanter Weise verfolgt, und es bestehen keine Gründe gegen die Wegweisung in das Herkunftsland. Die Behörde setzt der asylsuchenden Person eine Frist, innerhalb derer sie die Schweiz verlassen muss. Die Gesetzgebung sieht für abgewiesene Asylsuchende kein Ausweispapier vor. In einigen Kantonen können abgewiesene Asylsuchende den N-Ausweis behalten oder erhalten ein provisorisches Ausweispapier. Bis zur Ausreise haben abgewiesene Asylsuchende ein garantiertes Recht auf Nothilfe.

Schutzbedürftige

erhalten den S-Ausweis. Er berechtigt zum vorübergehenden Aufenthalt in der Schweiz, aber ist keine Aufenthaltsbewilligung. Dieser rechtliche Status wurde eingeführt, um bei Massenfluchtsituationen angemessen, schnell und pragmatisch reagieren zu können. Der Bundesrat hat ihn am 11. März 2022 erstmals aktiviert für Geflüchtete aus der Ukraine.

Die Flüchtlingshilfe bietet ein PDF Factsheet Status S (vorübergehender Schutz) zum Herunterladen an.

Wichtige Statusrechte

Dieses PDF fasst in einer Übersicht über die asylrechtlichen Ausweise und die wichtigsten Statusrechte zusammen, die Personen mit den verschiedenen Ausweisen haben: Asylrechtliche Ausweise und die wichtigsten Statusrechte

 

Von der aktuellen Solidaritätswelle sei sie sehr bewegt, sagt Oester. Doch sie sehe auch eine Ungleichbehandlung – und das sei kein Vorwurf an jene, die jetzt solidarisch sind. «Als Aleppo bombardiert wurde, bei der Tragödie in Afghanistan: Da hat die Empörung vielleicht zehn Tage hingehalten.» Doch dass nun sogar Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagt, das jetzt seien echte Kriegsflüchtlinge: «Das empfinde ich als sehr stossend. Eine solche Spaltung ist weder ethisch, religiös, moralisch noch rechtlich zu rechtfertigen.»

Esther Oester sieht diese Haltung in der Gesetzgebung zementiert. «Das Ausländer- und Integrationsgesetz kritisiere ich sehr. Hier sind sehr viele Ungerechtigkeiten festgehalten.» Die Verquickung von Sozialhilfe und Aufenthaltsstatus etwa sei unglücklich; damit kann Menschen, die Sozialhilfe beziehen müssen, der Aufenthaltsstatus reduziert werden. Vor drei Jahren hingegen hätte das Parlament mit dem «Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration» ein «super Regelwerk» festlegen können. Aber der Nationalrat lehnte es ab. «Doch die Menschenrechte müssten für alle gleich gelten», betont Oester.

Ein Gefühl von 2.-Klasse-Flüchtling

Irene Neubauer, katholische Seelsorgerin im Bundesasylzentrum (BAZ) Kappelen bei Lyss, staunt, wie verhalten die Reaktionen unter den Geflüchteten sind. «Es gibt kein offenes, grosses Aufbegehren. In Einzelgesprächen kommt aber manchmal schon zum Vorschein, dass sie teils das Gefühl von 2.-Klasse-Flüchtlingen haben gegenüber der erstklassigen Behandlung der Menschen aus der Ukraine.»

Wenn Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagt, die Ukrainer seien halt Miteuropäer, klingt das für mich, wie wenn die Geflüchteten aus aussereuropäischen Ländern nicht im gleichen Masse Mitmenschen wären.
Irene Neubauer, katholische Seelsorgerin

Ein Problem, dass viele Geflüchtete zur Sprache bringen, seien zum Beispieldie Kosten für den öffentlichen Verkehr. Für jene, die keinen Schutzstatus S haben, ist das Zugfahren praktisch unerschwinglich; vergütet werden ihnen nur Tickets zu medizinischen oder offiziellen Terminen. Auch dass sie nicht arbeiten und nicht da leben dürfen, wo sie wollen, erfahren sie als einschneidende Einschränkungen. «Trotzdem sagt niemand von den anderen Geflüchteten: Die Ukrainerinnen und Ukrainer dürfen das nicht erhalten. Niemand stellt in Frage, dass sie Schutz brauchen», sagt Neubauer.

Aus christlicher Sicht inakzeptabel

Nicht einverstanden mit dem unterschiedlichen Vorgehen ist Neubauer selbst. «Für mich geht die aktuelle Ungleichbehandlung der Flüchtlinge je nach Herkunft gar nicht. Speziell stossend finde ich zudem, dass auch von den Menschen aus der Ukraine nicht alle gleich behandelt werden.» So gibt es für Geflüchtete aus der Ukraine, die aus aussereuropäischen Ländern stammen und keinen ukrainischen Pass haben, nicht auch automatisch den Schutzstatus S. Und: «Wenn Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagt, die Ukrainer seien halt Miteuropäer, klingt das für mich, wie wenn die Geflüchteten aus aussereuropäischen Ländern nicht im gleichen Masse Mitmenschen wären. Das finde ich aus christlicher Sicht inakzeptabel», sagt die Seelsorgerin.

Ihrer Ansicht nach müsste der jetzige Umgang mit den Flüchtenden aus der Ukraine der Massstab sein für alle. «Es ist wunderbar, beeindruckend und berührend, wie breit die Not und die Notwendigkeit für Hilfe wahrgenommen wird und wie konkret solidarisch sich viele zeigen.» Irene Neubauer erhofft sich durch die aktuelle Betroffenheit in der Bevölkerung ein breites Erwachen: «Ich denke, dass jetzt einige merken, wie schwierig es ist, mit gut 300 Franken pro Monat für Kleider, Essen und Handy über die Runden zu kommen. Und gerade das Smartphone ist für Geflüchtete eine absolute Nabelschnur, ein Draht zur Welt, zu ihren Angehörigen – und kein Luxus.» Schliesslich zeige die aktuelle Situation auch, was alles möglich ist, wenn der politische Wille da ist. Das gibt Hoffnung, findet Irene Neubauer.

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