«Für Putin ist die Ukraine ein Kunstgebilde ohne Geschichte»

Ideologie

Warum hat Putins Armee die Ukraine überfallen? Russlandkenner Ulrich Schmid sieht den Autokraten auf einer historischen Mission, die von Imperialismus und Religion getrieben ist.

Haben Sie die russische Invasion vor dem 24. Februar für möglich gehalten?

Ulrich Schmid: Nein, damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Das Desaster war vorhersehbar: Die Härte der Sanktionen und die Isolation Russlands in der Weltgemeinschaft hätten eigentlich abschreckend wirken müssen. Jetzt erkenne ich, dass Putin weit stärker von einer historischen Mission getrieben war, als ich das bis dahin für möglich gehalten habe.

Was für eine geschichtliche Mission treibt ihn an?

Putins Weltsicht beruht auf einer dreigeteilten Ideologie. Da ist imperiale Idee vom historischen Russland. Dann ist er überzeugt von einer russisch-orthodox geprägten Kultur, die dem dekadenten Westen überlegen sei. Schliesslich glaubt er, ein Brückenbauer zwischen Europa und Asien zu sein.

Allein Putins Vorname verweist auf einen wichtigen orthodoxen Geschichtsmythos: Der Fürst Wladimir, der sich 988 taufen liess, gilt als Initiator der Christianisierung der Rus und hat in der orthodoxen Kirche Heiligenstatus.

Tatsächlich können wir es nachträglich als eine kriegerische Ansage deuten, dass 2016 für den Kiewer Fürsten Wladimir ganz nahe dem Kreml ein grosses Denkmal errichtet wurde

Wladimir I. war Grossfürst von Kiew. Der Ursprung der historischen Rus geht also auf die Ukraine zurück. Also muss das Land eine besondere Stellung in der russischen Geschichtsschreibung einnehmen.

Das sagen viele ukrainische Nationalisten auch. Die historische Wirklichkeit sieht allerdings anders aus: Nach dem sogenannten Mongolensturm (1237–40) stand die Ukraine über 200 Jahre unter Fremdherrschaft. Der Schwerpunkt der politischen wie kirchlichen Macht verschob sich damals Richtung Moskau. Die russische Hauptstadt bezeichnete der Mönch Filofei im 16. Jahrhundert als das Dritte Rom .

Ulrich Schmid (56)

Ulrich Schmid (56)

Der Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St.Gallen zählt zu den renommiertesten Kennern der russischen Politik und Geschichte. Neben russischer und ukrainischer Literatur zählen Politik und Medien in Russland zu seinen Forschungsschwerpunkten.

Was hat es mit dieser sakralen Geschichtstheorie auf sich, die Rom durchnummeriert?

Das erste Rom ist im Germanensturm untergegangen. Das zweite Rom war Byzanz und ging nach der Eroberung durch die Osmanen unter.  So ist Moskau zur zentralen Metropole des Christentums aufgestiegen. Dieses Dritte Rom sollte nach der Lesart des spekulierenden Mönches nie mehr untergehen.

Und Moskau geniesst als drittes Rom den Vorrang unter allen drei Rus-Völkern?

Obwohl Putin Russland, Belarus und die Ukraine als einen dreieinigen Bund sieht, besitzt Russland eine herausragende Stellung. Die religiöse Metaphorik der Dreieinigkeit ist symbolisch.

Putin macht mit der Verfassung Geschichtspolitik?

In der reformierten Verfassung von 2020 wird das russische Volk als staatsbildendes Volk bezeichnet. Darüber hinaus wird in der Verfassung auch die «Verteidigung der historischen Wahrheit» als Staatsaufgabe festgeschrieben. Dabei geht es um die Abwehr des verderblichen westlichen Einflusses und die Sicherung der russischen Einflusssphäre in Belarus und der Ukraine. Für Putin ist die Ukraine ein geschichtsloses Kunstgebilde ohne Staatlichkeit.

Und als Hüter des Dritten Rom herrscht der Moskauer Patriarch Kyrill, der Putin treu ergeben ist, auch über die meisten orthodoxen Kirchen in der Ukraine?

In der Ukraine ist die konfessionelle Situation kompliziert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es vier Kirchen mit Ostritus. Zwei dieser Kirchen vereinigten sich 2018 zur Orthodoxen Kirche der Ukraine. Die Anerkennung dieser neuen Nationalkirche durch den Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomäus I., verärgerte den Moskauer Patriarchen Kyrill zutiefst. Er kritisiert die Anerkennung als orthodoxes Schisma.

Wird nun die ukrainisch-orthodoxe Kirche mit ihrem Patriarchat in Kiew aufgrund der russischen Invasion erstarken?

Wie sich die Verhältnisse nach dem Krieg sortieren, lässt sich noch nicht sagen. Bedeutsam ist aber, dass die Geistlichkeit der ukrainisch-orthodoxen Kirche, die dem Moskauer Patriarchat untersteht, den russischen Einmarsch gemeinsam mit der orthodoxen Nationalkirche verurteilen.

Die Priester in Ukraine, die zum Moskauer Patriarchat gehören, sind Kyrill gegenüber durch ein Gelübde zum Gehorsam verpflichtet. Kommt die einhellige Verurteilung des Kriegs also überraschend?

Ja. Sich von Kyrill und Putin zu distanzieren, erfordert von den Priestern, die dem Moskauer Patriarchat zugehören, einigen Mut. Sie verurteilen nicht nur den Einmarsch, sondern sie weigern sich auch den Moskauer Patriarchen in die Fürbitte im Hochgebet einzuschliessen.

Wie nehmen denn die Gläubigen diese hochpolitisierte Kirchenlandschaft wahr?

Wir haben in einem Forschungsprojekt untersucht, welche Präferenzen die ukrainischen Gläubigen haben. Der überraschende Befund war, dass sie oft gar nicht wissen, ob sie eine Moskau zugewandten Kirche besuchen oder eine ukrainische Nationalkirche.

Die ukrainische Kirchenlandschaft ist vielfältig. Neben den orthodoxen Kirchen gibt es auch noch die griechisch-katholische Kirche, der immerhin zehn Prozent der ukrainischen Christen angehören.

Diese Kirche pflegt zwar die orthodoxe Liturgie, anerkennt aber den Papst als Oberhaupt. Sie entstand in der Zeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik und wurde später in Galizien von den Habsburgern geduldet. Dort ist auch der Gedanke, sich mehr dem Westen Europas zugehörig zu fühlen, weit verbreitet. Galizien nimmt eine ganz wichtige Rolle ein für das Streben der Ukraine zur Eigenstaatlichkeit. Man kann es vergleichen mit dem Piemont, von dem aus sich die italienische Nationalbildung im 19. Jahrhundert nach Süden und Osten ausbreitete.

Dieser Aspekt passt schlecht ins Geschichtsbild von Putin.

Das stimmt. Putin selbst hat in einem Interview erst kürzlich betont, dass er Lenin als Gründer des ersten ukrainischen Staates betrachtet und dass die Ukraine sich eigentlich 1991 in den Grenzen von 1922 als Staat hätte konstituieren müssen – also ohne Galizien. Das könnte auch die mögliche Nachkriegsordnung bestimmen, die Putin anstrebt: Die zwei ostukrainischen «Volksrepubliken» Donezk und Lugansk würden mittelfristig der Russischen Föderation zugeschlagen. Dann bliebe ein ukrainischer Satellitenstaat mit einer Regierung von Moskaus Gnaden in Kiew, und Galizien wäre als kleiner ukrainischer Rumpfstaat sich selbst überlassen.

Galizische Griechisch-Katholische, Kosaken und Krim-Tataren: Die Vielfalt von Religionen und Ethnien macht das Argument Putins nachvollziehbar, dass sich in der Ukraine keine politischen Anlagen zur Eigenstaatlichkeit ausgebildet haben.

Diese These weise ich als Geschichtspropaganda des Kremls entschieden zurück. Mit einer solchen Argumentation müsste man auch das Existenzrecht der viersprachigen Schweiz infrage stellen. Wie die Schweiz ist auch die Ukraine eine Willensnation mit starken regionalen Identitäten und mehreren Sprachen.

Putin dagegen stellt ein Puzzleteil der ukrainischen Geschichte besonders heraus: die Kollaboration ukrainischer Nationalisten im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis.

Das ist nicht von der Hand zu weisen. Hier gibt es tatsächlich mit der Organisation ukrainischer Nationalisten und ihrem militärischen Arm, der Aufstandsarmee einen Anknüpfungspunkt. Der Grund, warum diese Untergrundarmee so eine grosse Sympathie genoss, wird aber in Russland unterschlagen. Schätzungsweise sieben Millionen Ukrainer starben an Hunger durch die stalinistische Politik der Zwangskollektivierung in den 1930er Jahren.

Bis heute hat die Ukraine ein Problem mit dem Rechtsextremismus. Auch die Maidan-Proteste 2013 in Kiew wurden von der rechtsradikalen Szene massiv unterwandert.

Tatsächlich ist der sogenannte rechte Block massiv militant auf dem Maidan in Erscheinung getreten. Trotz der damals medial grossen Aufmerksamkeit handelt es sich aber um eine zahlenmässig kleine Gruppe. Die Befürchtung, dass sie in der nachfolgenden Parlamentswahl zu einem ernstzunehmenden politischen Faktor erstarken würden, bewahrheitete sich nicht. Die Rechtsradikalen blieben im einstelligen Bereich.

Die Kreml-Propaganda behauptet, mit der russischen Armee die Ukraine zu entnazifizieren. Das klingt angesichts der engen Kontakte Putins zu den rechtspopulistischen Kreisen von Deutschland bis Frankreich gelinde gesagt kurios.

Putins Kontakte mit der AfD oder mit der französischen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen folgen vor allem einem Motiv: Er möchte die europäischen Gesellschaften spalten und polarisieren. Deshalb zeigt er seine Gunst gegenüber Orbán oder Salvini. Aber eigentlich möchte er in einer anderen Liga spielen und mit Biden, Macron oder Scholz auf Augenhöhe sein.

Dieser Möglichkeit hat er sich nun mit seinem Angriff auf die Ukraine beraubt.

Damit hat Putin wirklich das ganze Bündel von Optionen, die für ihn zur Lösung der Krise bereitstanden, auf einen Schlag weggeworfen. Russland wird nun für lange Zeit ein Paria-Staat sein, geächtet von der Weltgemeinschaft.

Und sein Wunsch, die Ukraine in die russische Einflusssphäre zusammen mit Belarus zu überführen, ist mit der Brutalität des Angriffskriegs ebenfalls Makulatur geworden?

Offiziell wird in Moskau immer noch daran festgehalten, dass Russland sein Brudervolk befreie. Aber die Bilder der Zerstörung und der Flüchtlingsströme sprechen eine andere Sprache. Damit hat Putin im Namen der von ihm gepriesenen russischen Heimat vielleicht seine eigene Geschichtsmythologie für immer zerstört.

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