Der Krieg hat Ihr Land Ukraine tief erschüttert. Wie erleben Sie diesen in Ihrem Alltag?
Taras Dyatlik: Ich wohne in Riwne in der Ostukraine. Unsere Region wurde bisher zum Glück weitgehend verschont, vermutlich wegen des nahe gelegenen Atomkraftwerks und der Nähe zur Grenze zu Belarus, das eng mit Russland verbündet ist. Aber der Krieg steckt in uns allen. Ich bin viel in den Ausbildungsstätten der International Evangelical Theological Alliance in der ganzen Ukraine unterwegs. Somit bin ich mit zahlreichen Menschen in Kontakt, die durch den Krieg alles verloren haben.
Wurden auch Mitglieder Ihrer Familie vom Krieg getroffen?
Ich habe fünf Familienmitglieder verloren, darunter mein Bruder Andriy. Er war Anästhesist und diente bereits 2014 in der Nationalgarde gegen die russische Armee. Als 2022 die grosse Invasion begann, wurde er erneut als Militärarzt eingezogen. Er koordinierte Evakuierungen von verwundeten Soldaten. An seinem 33. Geburtstag war er mit zwei Kameraden unterwegs, um einen neuen Sanitätsposten einzurichten. Ihr Auto wurde von russischen Drohnen getroffen. Mein Bruder überlebte schwer verletzt, fiel ins Koma und starb am 24. Juli 2024 in Odessa.
Was hat dieser Verlust mit Ihrem Glauben an Gott gemacht?
Ich kann nicht mehr so an einen allmächtigen Gott glauben wie vor dem russischen Krieg. Seit dem Verlust meiner Familienmitglieder lese ich die Bibel anders. Gott ist für mich kein abstraktes Prinzip mehr, sondern ein Gegenüber, das selbst gelitten hat und verlassen wurde, wie Jesus am Kreuz. Das gibt mir Freiheit und Hoffnung.
Inwiefern Hoffnung?
Ich sehe heute: Auch in der Flucht vor Gott kann eine Bewegung auf ihn zu liegen. Wie die Jünger in Gethsemane, die flohen und doch später genau dorthin zurückkehrten, wo Jesus sie erwartete. Oder Simon von Kyrene, der zufällig das Kreuz von Jesus tragen musste. Auch das ist Gnade: dass andere Menschen dabei helfen, unser Kreuz zu tragen.
Welche Auswirkungen hat diese andere Wahrnehmung auf Ihre theologische Arbeit?
Ich bin ein Suchender geworden. Der Krieg, der Tod meines Bruders, all das Leid hat meinen Glauben nicht zerstört, aber stark verändert. Ich fühle mich heute weniger in einer bestimmten Konfession zu Hause als in einer Haltung des Fragens und des Hörens. Formen des Glaubens, wie ich sie früher kannte, geben mir keine Antworten mehr. Ich suche heute nach einer Theologie, die das Leiden nicht übergeht. Und nach einem Glauben, der verletzlich bleibt und beziehungsorientiert.