Der Weg zur Rente führt durchs Minenfeld

Konflikt

Die Schweiz versorgt als einziges Land die Bevölkerung beidseits der Kontaktlinie in der Ostukraine. Eine Reportage aus dem Krisengebiet.

Es ist kurz nach acht Uhr früh an einem kühlen Oktobertag am Checkpoint in Novotroitske. Dieter Dreyer von der Humanitären Hilfe des Bundes steigt aus dem gepanzerten Fahrzeug. Er übergibt dem ukrainischen Soldaten alle nötigen Dokumente. Dreyer und sein Team sind in drei Fahrzeugen unterwegs. Sie bringen ein Tuberkulose-Diagnosegerät und Verbrauchsmaterial vom regierungskontrollierten Gebiet nach Luhansk – die Stadt im abtrünnigen Teil der Ukraine, der die Unabhängigkeit anstrebt.

Ärger und Gelassenheit. Dreyer überquert die sogenannte Kontaktlinie schon zum 18. Mal. Hier sind sich das ukrainische Militär und separatistische Kämpfer in den letzten Jahren bedrohlich nah gekommen. Nach Monaten der Vorbereitung von Bern aus sind vor Ort Geduld und Flexibilität gefragt.

«Die Planung kann jederzeit auf den Kopf gestellt werden», sagt Dreyer. Und schon passiert es. Der ukrainische Offizier findet Unstimmigkeiten in einem der Dokumente. Bis sie korrigiert sind, warten die Schweizer am Checkpoint. «Das ist ärgerlich», sagt Dreyer. Er nimmt das Warten gelassen. 

Reise mit Strapazen. Auf der anderen Seite des Übergangs drängen sich rund 200 Menschen aneinander. 10 000 Menschen passieren die Frontlinie täglich. Die Kontrollen gehen nur langsam vorwärts. Zwei ukrainische Soldaten prüfen die Einreisepapiere der Fussgänger. Viele davon sind Rentner aus den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk.

Sie müssen sich regelmässig bei den Behörden im Westen melden. Nur so haben sie Anspruch auf ihre staatliche Pension. Die durchschnittlich siebzig Franken sind persönlich im regierungskontrollierten Gebiet bei einer staatlichen Bank zu beziehen.

Mobile Toilettenhäuser. Viele Rentner besitzen kein Auto, deshalb reisen sie mit dem Bus. Das ist kompliziert. Am Checkpoint der Separatisten müssen sie aussteigen. Sie passieren die Kontrollen zu Fuss und nehmen anschliessend wieder einen Bus. Dann wartet die «graue Zone» auf sie: ein verlassener Strassenabschnitt zwischen den Checkpoints des ukrainischen Militärs und der Separatisten. 

In Novotroistke ist die Strecke drei Kilometer lang und führt durch ein Minenfeld. In der Strassenmitte stehen alle paar Meter mobile Toilettenhäuser. Sich am Rand der asphaltierten Strasse hinter den Büschen zu erleichtern, ist hier lebensgefährlich.

Anspruch verloren. Am Ende der Strecke steigen die Reisenden noch einmal aus dem Bus und reihen sich beim ukrainischen Kontrollposten ein. Bettlägerige und kranke Menschen können diese Tagesreise kaumnoch auf sich nehmen. Laut dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge haben deshalb mehr als 400 000 Renter ihr Altersgeld verloren.

Eineinhalb Stunden muss der Schweizer Konvoi am ukrainischen Checkpoint warten, bis die Fahrt für Dreyer und sein Team weitergeht. Der Schweizer Hilfstransport passiert die graue Zone und kommt am Posten der Separatisten erneut zum Stillstand. Grünes Licht zur Weiterfahrt erhalten sie nach drei Stunden.

Die falsche Musik gehört. Die dreiFahrzeuge umfahren zerbombte Brücken und bewegen sich abschnittsweise mit nicht mehr als dreissig Stundenkilometern. Zu gross sind die Löcher im Asphalt. Zwischen Donetzk und Luhansk säumen Häuser mit Einschusslöchern und zusammengestürzten Dächern, verlassene Dörfer und stillstehende Bergwerke den Weg – Spuren eines in Westeuropa vergessenen Krieges. «Zwar sind dieKriegshandlungen und Opferzahlen zurückgegangen, aber die Situation bleibt instabil», sagt Dreyer.

Wie angespannt die Situation ist, erzählt ein 45-jähriger Ukrainer: «Ich komme mir vor wie zu Stalins Zeiten», sagt der Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Nachbarn in Donetzk würden rapportieren, wenn er zu Hause ukrainische Musik höre. Ab zehn Uhr nachts herrscht Ausgangssperre.

Ankunft nach zehn Stunden. Kurz nach fünf Uhr abends kommen die Schweizer in der Tuberkuloseklinik in Luhansk an. Zehn Stunden brauchten sie für die knapp 250 Kilometer. Belegschaft und Helfer laden das 400 Kilo schwere Gerät und die Kartonschachteln mit Verbrauchsmaterial aus dem Fahrzeug. Die Lieferung wurde sehnlichst erwartet.Die Schweiz ist bisher der einzige Staat, der Hilfstransporte in die Ostukraine organisiert und die Bevölkerung beidseits der «Kontaktlinie» versorgt.

Ein fast vergessener Krieg

Seit 2014 herrscht im Osten der Ukraine Krieg. Die Mehrheit der 45 Millionen Ukrainer will, dass sich das Land an Europa orientiert. Separatistische Gruppen aber zielen auf eine Unabhängigkeit der Ostukraine oder eine Verbündung mit Russland. Mehrere Waffenruhen wurden ausgerufen, jüngst im August dieses Jahres.Der Waffenstillstand wird jedoch regelmässig von beiden Seiten gebrochen.

Kriegsopfer. Der Konflikt hat bisher über 10 000 Todesopfer und mehr als 24 000 Verletzte gefordert. 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge registrieren die ukrainischen Behörden. Gemäss UNO sind 4 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Besonders betroffen ist die Bevölkerung beidseits der Front, wo es immer wieder zu Kampfhandlungen kommt.

Mehr zu diesem Thema

Ökumenischer Rat der Kirchen will russische und ukrainische Kirchenvertreter an einen Tisch bringen
11. April 2023, von Felix Reich

Ökumenischer Rat der Kirchen will russische und ukrainische Kirchenvertreter an einen Tisch bringen

Unterschiedliche orthodoxe Gemeinden beteten im Zürcher Grossmünster gemeinsam für den Frieden
25. Januar 2023, von Felix Reich

Unterschiedliche orthodoxe Gemeinden beteten im Zürcher Grossmünster gemeinsam für den Frieden

Der Schriftsteller Michail Schischkin über die gefährliche Nähe der orthodoxen Kirche zur Macht
28. Juli 2022, von Michail Schischkin

Der Schriftsteller Michail Schischkin über die gefährliche Nähe der orthodoxen Kirche zur Macht

Der Ökumenische Rat der Kirchen verhängt keine Sanktionen gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche.
22. Juni 2022, von Heimito Nollé/ref.ch; Hans Herrmann

Der Ökumenische Rat der Kirchen verhängt keine Sanktionen gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche.

Die EKS-Synode kritisiert die Kriegsrhetorik des Moskauer Patriarchats und verlangt Konsequenzen
13. Juni 2022, von Felix Reich

Die EKS-Synode kritisiert die Kriegsrhetorik des Moskauer Patriarchats und verlangt Konsequenzen

Wir sollten auch in die Sprache investieren: Frieden beginnt, wenn die Worte des Hasses verstummen
28. Mai 2022, von Marius Schären

Wir sollten auch in die Sprache investieren: Frieden beginnt, wenn die Worte des Hasses verstummen

Flüchtlinge und der neue Schutzstatus S: Die Solidarität, die Standard sein sollte
20. April 2022, von Marius Schären

Flüchtlinge und der neue Schutzstatus S: Die Solidarität, die Standard sein sollte

Das Leben in Sicherheit beginnt im Pfarrhaus
19. April 2022, von Sandra Hohendahl-Tesch, Cornelia Krause

Das Leben in Sicherheit beginnt im Pfarrhaus

Die Botschaft von Ostern trotzt der Kriegslogik
16. April 2022, von Felix Reich

Die Botschaft von Ostern trotzt der Kriegslogik

Flucht aus der Ukraine: «Basel ist unsere zweite Heimat geworden»
14. April 2022, von Karin Müller/kirchenbote-online.ch

Flucht aus der Ukraine: «Basel ist unsere zweite Heimat geworden»

Religionen demonstrieren vereint gegen den Krieg
04. April 2022, von Marius Schären

Religionen demonstrieren vereint gegen den Krieg

Ihre Eltern waren vor dem Holocaust geflohen, nun nimmt Anita Winter Ukrainer in ihr Elternhaus auf
29. März 2022, von Anouk Holthuizen

Ihre Eltern waren vor dem Holocaust geflohen, nun nimmt Anita Winter Ukrainer in ihr Elternhaus auf

Wie Hilfsgüter aus der Schweiz zu den Menschen in der kriegsversehrten Ukraine gelangen
28. März 2022, von Mayk Wendt

Wie Hilfsgüter aus der Schweiz zu den Menschen in der kriegsversehrten Ukraine gelangen

Wie die Kirchen in der Schweiz der Bevölkerung in der Ukraine und den Kriegsflüchtlingen helfen
23. März 2022, von Adriana Di Cesare/Kirchenbote

Wie die Kirchen in der Schweiz der Bevölkerung in der Ukraine und den Kriegsflüchtlingen helfen

Ein Konfliktforscher und ein Friedenstheologe suchen nach der richtigen Antwort auf Gewalt.
21. März 2022, von Nicola Mohler

Ein Konfliktforscher und ein Friedenstheologe suchen nach der richtigen Antwort auf Gewalt.

Ein Paar aus der Ukraine, das nun mit ihrem Kind an der ungarischen Grenze festsitzt, erzählt
17. März 2022, von Klaus Petrus/Kirchenbote

Ein Paar aus der Ukraine, das nun mit ihrem Kind an der ungarischen Grenze festsitzt, erzählt

Russland-Experte Ulrich Schmid umschreibt die Ideologe hinter Putins Angriff auf die Ukraine
16. März 2022, von Delf Bucher

Russland-Experte Ulrich Schmid umschreibt die Ideologe hinter Putins Angriff auf die Ukraine

Die Kritik an der Kremltreue des orthodoxen Patriarchen Kyrill wächst
08. März 2022, von Stefan Degen/Kirchenbote

Die Kritik an der Kremltreue des orthodoxen Patriarchen Kyrill wächst

Im Grossmünster beten zahlreiche Menschen aus unterschiedlichen Religionen für den Frieden
02. März 2022, von Felix Reich

Im Grossmünster beten zahlreiche Menschen aus unterschiedlichen Religionen für den Frieden

Kirchen zur Ukraine-Krise: Friedensappelle und dröhnendes Schweigen
21. Februar 2022, von Stefan Kube, kirchenbote-online.ch

Kirchen zur Ukraine-Krise: Friedensappelle und dröhnendes Schweigen

Die Krise hat die Konfessionen geeint
23. November 2017, von Stefan Schneiter

Die Krise hat die Konfessionen geeint

«Multireligiosität ist Teil unserer Identität»
24. Juni 2016, von Nicola Mohler

«Multireligiosität ist Teil unserer Identität»