Recherche 21. März 2022, von Nicola Mohler

Wenn die Waffen sprechen, fällt die Antwort schwer

Krieg

Der russische Angriff auf die Ukraine bringt die Friedensbewegung in Erklärungsnot. Ein Konfliktforscher und ein Friedenstheologe auf der Suche nach Antworten.

«Am Ende jedes Krieges zählen wir die Toten und fragen uns, wie wir so viel Gräuel zulassen konnten», sagt Fernando Enns. Der Friedenstheologe versteht nicht, warum die Menschen nichts aus der Geschichte lernen. «Immer wieder glauben wir, dass gegen Waffen nur Waffen helfen.» Für den überzeugten Pazifisten sind Waffen nie eine Lösung. Auch jetzt in der Ukraine nicht.

Die russische Invasion in die Ukraine hat Gewissheiten erschüttert. Der Friede in Europa ist gebrochen. Viele sind sich einig, dass gegen einen Aggressor wie Wladimir Putin nur militärische Mittel helfen. Sogar Friedensaktivisten akzeptieren Waffenlieferungen an die Ukraine.

Verteidigung der Freiheit

Oliver Thränert, Leiter des Thinktanks am Center for Security Studies an der ETH Zürich, rechtfertigt die Waffenexporte an den angegriffenen Staat: «Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigen nicht nur ihr Land, sondern auch unsere Werte von Freiheit und Demokratie.» Thränert betont jedoch, bei aller Unterstützung müsse unbedingt verhindert werden, dass sich der Konflikt ausweite und zu einem Nuklearkrieg eskaliere. «Das gelingt nur, wenn der Westen nicht direkt in den Krieg eingreift.» Bereits eine erhöhte Alarmbereitschaft für die eigenen Atomstreitkräfte könne auch zu einer Eskalation beitragen.

Oliver Thränert

Dr. Oliver Thränert leitet den Think Tank am Center for Security Policy der ETH Zürich und ist Non-Resident Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Neben seinen Waffenlieferungen hat Deutschland auch 100 Milliarden für die eigene Bundeswehr gesprochen. Thränert befürwortet das Vorgehen. «Ein Staat muss verteidigungsbereit sein, dafür hat er eine Armee.» Aber die Aufrüstung sei nur sinnvoll, wenn die Armee auch handlungsfähig und gut ausgebildet sei. Ohne abschreckende Wirkung sei eine Armee sinnlos.

Fernando Enns hingegen lehnt sowohl Waffenlieferungen als auch Aufrüstungsprogramme entschieden ab. «Sich mit militärischen Mitteln Zeit zu kaufen, um dann den Friedensprozess voranzubringen, funktioniert in der Realität selten.» Der Friedenstheologe verweist auf Afghanistan, Libyen oder den Irak. Dort habe der Westen mit militä­rischen Mitteln eine bessere Welt schaffen wollen und sei gescheitert.

Kampf für den Frieden

Enns ist überzeugt: «Man muss für den Frieden kämpfen, aber gewaltfrei.» Als Mittel nennt er das Konzept des gerechten Friedens: Friedensbildung in ihrer Ganzheit also, von einer gerechten Wirtschaft bis hin zu gerechten Beziehungen in einer Gesellschaft und zwischen den Völkern. Das Konzept stammt vom Ökumenischen Rat der Kirchen und soll verhindern, dass überhaupt zu den Waffen gegriffen wird. 

Fernando Enns

Fernando Enns ist ein brasilianisch-deutscher Theologe und ist Leiter der Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen am Fachbereich Evangelischen Theologie der Universität Hamburg und ist Professor für Theologie und Ethik an der Theologischen Fakultät der Vrije Universiteit Amsterdam in den Niederlanden.

Gemäss Enns ist eine gewaltfreie Lösung auch jetzt in der Ukraine möglich: «Wir müssten alle Kirchen gemeinsam dazu bringen, dass sie sich jetzt klar gegen den Krieg aussprechen.» Fernando Enns ist sich der Schwierigkeit bewusst, die russisch-orthodoxe Kirche zu diesem Schritt zu bringen, weil der Patriarch Putins Politik stützt. Aber er glaubt an den Auftrag der Kirche, sich über nationale Grenzen hinaus um die Menschen zu kümmern.

Niemanden verurteilen

Der Professor für Theologie der Friedenskirchen an der Universität Hamburg ist geprägt von der Biografie seines Grossvaters, der zwischen den Weltkriegen aus der Ukraine nach Paraguay geflohen war. Als Mennonit verweigert Enns den Kriegsdienst. Weil Gewaltfreiheit Teil der christlichen Friedensethik sei. Daher solle ein Christ auch in der Not nicht zur Waffe greifen, nur weil er fürchte, selbst erschossen zu werden, sagt Federico Enns. Dennoch würde er keinen Ukrainer dafür verurteilen, wenn er sich mit Waffen verteidigt. «Ich kann nicht garantieren, wie ich selbst in einer derartigen Situation direkter Bedrohung handeln würde.»

Vor einem Dilemma steht Sicherheitsexperte Oliver Thränert von der ETH: «Gehen die Kämpfe weiter, verlängert dies den Krieg, und es gibt mehr Tote.» Aber auch eine Kapitulation der Ukraine würde weitere Opfer fordern. Thränert sieht daher «keinen unschmutzigen Ausweg» aus dem Krieg.

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