Recherche 08. März 2022, von Stefan Degen/Kirchenbote

«Viele Priester haben Kyrill aus der Fürbitte gestrichen»

Orthodoxie

Der Einfluss der Orthodoxen in der Ukraine und in Russland ist gross. Doch die kirchlichen Stimmen in Russland zum Krieg sind unterschiedlich, sagt Ostkirchen-Experte Erich Bryner.

Die lange Geschichte der orthodoxen Kirche verbindet Russland und die Ukraine. Als Geburtsstunde des Christentums in Russland gilt die von Grossfürst Wladimir verordnete Massentaufe im Fluss Dnepr in Kiew im Jahr 988.

Erich Bryner: Die orthodoxe Kirche ist ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft. Damals im Kiewer Fürstentum, später in den Nachfolgestaaten. Bis zum heutigen Tag.

Heute ist die Orthodoxie in der Ukraine aber aufgespalten in mehrere Kirchen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Ukraine 1991 unabhängig. Im Normalfall würde in diesem Fall in jedem Land eine eigene orthodoxe Kirche gegründet. Das ist in der Ukraine aber nicht geschehen. Die Ressourcen der ukrainischen Diözesen sind für das Moskauer Patriarchat äusserst wichtig – bis hin zum theologischen Nachwuchs. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche Patriarchat Moskau ist die grösste orthodoxe Kirche in der Ukraine. 

Und die anderen orthodoxen Kirchen?

Neu gebildet hat sich 1992 die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche vom Kiewer Patriarchat. Diese konzentrierte sich auf die Ukraine und gab sich nationalistisch. Daneben gibt es eine kleine, autokephale, also unabhängige orthodoxe Kirche und schliesslich noch eine vierte, mit Rom unierte. Diese vier Kirchen feiern praktisch den gleichen Gottesdienst – die Liturgie unterscheidet sich nur in der Fürbitte für das jeweilige geistliche Oberhaupt.

Zu einer weiteren Spaltung kam es im Jahr 2018.

Das war eine Neugründung: Die Orthodoxe Kirche in der Ukraine (OKU). Diese will die Spaltung eigentlich überwinden. Sie wurde vom Patriarchat in Konstantinopel gefördert, ist aber nicht in der gesamten Orthodoxie anerkannt – vor allem nicht in der russischen.

Russische Provokation in Afrika

Von einer «illegalen, bösen, verwerflichen Entscheidung» spricht Metro­polit Epifani von Kiew, Oberhaupt der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU). Der in der russisch-orthodoxen Kirche für Aussenbeziehungen zuständige Metropolit Ilarion entgegnet: Seine Kirche reagiere nur auf die Bitten von Gläubigen, die nach der «irrsinnigen Einmischung des Patriarchen von Konstantinopel» nichts mit dem Schis­ma zu tun haben wollten.

Das Duell illustriert den Konflikt in der Orthodoxie. Vom damaligen Staats­präsidenten Petro Poroschenko unterstützt, erhielt die OKU 2019 vom ökumenischen Patriarchen Bartholomaios von Konstantinopel die Autokephalie verliehen und versteht sich nun als eigenständiges Mitglied der ortho­doxen Kirchenfamilie. Moskau kritisiert die Anerkennung als Kirchenspaltung und brach die eucharistische Gemeinschaft mit Alexandria ab, nachdem der griechisch-orthodoxe Patriarch Theodoros mit Epifani eine Messe gefeiert hatte. Nach einer Eucharistie des Duos gründete Moskau in Afrika ein Exarchat mit eigenen Gemeinden. «Eine weitere deutliche Eskalation», sagt Stefan Kube von G2W. Denn eigent­lich hatte sich die Orthodoxie auf die Aufteilung der Weltkarte geeinigt. (FMR)

Wie reagieren die orthodoxen Kirchen auf den Krieg in der Ukraine?

Da gibt es unterschiedliche Stimmen. Der Moskauer Patriarch Kyrill, Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen, ruft die Geistlichen auf, den Betroffenen zu helfen und um Frieden zu beten. Er verurteilt den Krieg aber nicht. Kyrill unterhält eine enge Beziehung zum Kreml und Präsident Putin. Anders tönt es aus dem Ableger der russisch-orthodoxen Kirche in der Ukraine. Metropolit Onufrij fordert Putin mit scharfen Worten auf, den Krieg sofort zu beenden. Zahlreiche Priester erklären, dass sie Patriarch Kyrill in den Fürbitten im Gottesdienst nicht mehr nennen. Viele Gläubige wollen den Namen Kyrill in ihren Kirchen nicht mehr hören. Wenn Kyrill den Krieg schon nicht verurteile, solle er sich doch wenigstens um die «mehr als 3000 getöteten russischen Soldaten» kümmern, deren Leichen auf ukrainischem Boden lägen.

Und die anderen Kirchen in der Ukraine?

Metropolit Epifanij von der OKU verurteilt den Angriffskrieg, ruft zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte auf und segnet die Verteidiger des Landes. Er fordert gar ein «Nürnberger Kriegstribunal» für den Kreml. Auch die mit Rom unierte Kirche ruft zum Widerstand auf.

Erich Bryner

Erich Bryner

Der reformierte Pfarrer Erich Bryner studierte russische Sprache und Literatur. Er war Titularprofessor für osteuropäische Kirchengeschichte an der Universität Zürich und von 1991 bis 2005 Leiter des Instituts Glaube in der 2. Welt (G2W).

Gibt es auch in Russland Kritik an Putin aus den Reihen der Geistlichen?

Ja, zum Beispiel von Priester Georgi Edelstein. Er war schon Oppositioneller zu Sowjetzeiten und übt deutliche Kritik. Die Kreml-Propaganda sei schwarz-weiss. Edelstein vergleicht den Krieg mit dem Brudermord von Kain und Abel. Es werden immer mehr Briefe von Gemeindegeistlichen und Gläubigen bekannt, auch in Russland selbst, die ein Ende des Krieges fordern. Es gibt aber auch russische Geistliche, die den Krieg unterstützen und die Kreml-Propaganda übernehmen. Priester Nikolai Bandurin aus der Gegend von Rostov etwa schreibt: «Es ist höchste Zeit, die Dinge dort (in der Ukraine) in Ordnung zu bringen – und wir müssen den Präsidenten unterstützen.»

Vor zwei Monaten wurde in Russland die renommierte Menschenrechtsorganisation Memorial verboten, die Verbrechen der Stalin-Zeit aufarbeitet. Wie steht die russisch-orthodoxe Kirche dazu? 

Einerseits ist die Kirche auf die Arbeit Memorials angewiesen. Memorial hat Massengräber von zu Sowjetzeiten erschossenen Geistlichen entdeckt. Andererseits hat sich die Kirche in Abhängigkeit des Kremls begeben. Und der Kreml bekämpft alles, was oppositionell sein könnte. Memorial wurde aufgrund eines «Gesetzes gegen ausländische Agitatoren» verurteilt, seine Leute als Spione verunglimpft. Der Kreml möchte die dunklen Kapitel der Sowjetgeschichte verheimlichen, etwa die Verfolgung der Kirche, und den Fokus der Erinnerungskultur auf den heldenhaften Sieg gegen Nazideutschland legen. Deshalb war ihm Memorial ein Dorn im Auge.

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