Recherche 11. Oktober 2023, von Felix Reich

«Die Kirche ergreift Partei für die Schwachen»

Kirche

Die Pfarrerin und Kirchenrätin Esther Straub sagt, weshalb sie Kirchenratspräsidentin der Zürcher Landeskirche werden will und wie politisch die Kirche sein soll.

Warum wollen Sie Kirchenratspräsidentin werden?

Es ist an der Zeit, dass eine Frau ins Kirchenratspräsidium der Zürcher Landeskirche gewählt wird. Das ist ein wichtiges Signal nach innen und nach aussen. Für das Amt bringe ich grosse Erfahrung und eine breite Vernetzung in Politik und Kirche mit. Ich will mich für eine starke reformierte Kirche einsetzen. 

Sollten Sie die Wahl für das Präsidium verpassen, ziehen Sie sich aus dem Kirchenrat zurück. Ihre Fraktion bringen Sie damit in die Bredouille: Sie muss vielleicht eine neue Kandidatin oder einen neuen Kandidaten aus dem Hut zaubern. 

Meinen Entscheid fällte ich in enger Absprache mit meiner Fraktion. Ich mache keine Alleingänge. Ich bin ein Fan von Transparenz und konsequenten Handlungen. Wenn sich die Synode gegen mich entscheidet, liegt das nicht an meiner Erfahrung oder meinem Fachwissen. Dann liegt es an meiner Person, und es wäre inkonsequent, danach einfach als Kirchenrätin weiterzumachen. Ich mag kein Wischiwaschi. Zudem ist es in meiner Berufsbiografie eine Weichenstellung: Entweder kommt jetzt das Amt als Kirchenratspräsidium auf mich zu oder ich konzentriere mich aufs Pfarramt. 

Esther Straub (53)

Für die Religiös-soziale Fraktion kandidiert Esther Straub für das Kirchenratspräsidium der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Straub ist Pfarrerin in der reformierten Kirchgemeinde Zürich und seit Herbst 2015 Kirchenrätin. 2006 wurde die Sozialdemokratin in den Zürcher Gemeinderat gewählt, 2015 wechselte sie in den Kantonsrat, wo sie Mitglied der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit war. Straub studierte in Zürich und Paris Theologie und war Assistentin am Lehrstuhl für Neues Testament der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Sie promovierte mit einer Arbeit zum Johannesevangelium.

Was ist Ihr Leistungsausweis nach acht Jahren Kirchenrat?

Die Seelsorge in öffentlichen Institutionen ist sehr gut aufgestellt und im Kanton Zürich klar positioniert. Die reformierte Kirche leistet nicht irgendeinen Seelsorgedienst, sondern profiliert sich als unabhängige Stimme in Spitälern oder Gefängnissen.

Warum muss sich Seelsorge profilieren? Wichtig ist in den Institutionen doch, dass die Seelsorgerinnen und Seelsorger über die konfessionellen und religiösen Grenzen hinweg gut zusammenarbeiten.

Sicher. Aber eine gute Zusammenarbeit ist gerade dort möglich, wo die Seelsorgenden ihre religiöse Identität klar benennen, statt Unterschiede zu verwischen. Wir wollen in den Spitälern den Patientinnen und Patienten einen geschützten Gesprächsraum anbieten. Voraussetzung dafür ist, dass Seelsorge ein Dienst der jeweiligen Religionsgemeinschaft ist und keine konfessionsneutrale, zweckrationale Leistung des Gesundheitswesens.

Dieser Konfessionalismus ist nicht von gestern?

Nein. Seelsorge ist ein Bedürfnis, das vom Staat anerkannt ist und bei Umfragen in der Bevölkerung zur Beurteilung kirchlicher Leistungen an erster Stelle genannt wird. Auch der Regierungsrat unterstützt die Position, dass Seelsorge an Spitälern oder Gefängnissen ein besonderer Dienst ist, der von Dritten erbracht werden muss. Der Kanton hat dabei nicht nur die beiden grossen Landeskirchen im Blick, sondern auch andere Religionsgemeinschaften. In der Ausbildung arbeiten Kirchen und Religionsgemeinschaften zusammen, und der Dialog über konfessionelle und religiöse Grenzen hinweg ist wichtig. Die Patientinnen und Patienten können wählen, ob sie eine reformierte oder eine katholische Seelsorgerin wollen, einen Imam oder Rabbiner. Das Konzept der Zusammenarbeit, das Unterschiede nicht verwischt, halte ich über den Kanton Zürich hinaus für zukunftsweisend. Es bildet die Diversität in der religiösen Landschaft ab und vermeidet den Einheitsbrei.

Steht die Kirche vermehrt unter Rechtfertigungsdruck, weil sie ihre Monopolstellung im religiösen Markt eingebüsst hat?

Wir sehen uns vom Staat sehr unterstützt. Die gute Zusammenarbeit rührt auch daher, dass wir eben gerade nicht suggerieren, die reformierte Kirche sei eine Monopolistin. Die muslimische Seelsorge in den Bundesasylzentren, die mittlerweile fest etabliert ist, wurde massgeblich von uns angeregt. Auch ein aktuelles Projekt, das Angehörige von Gefangenen seelsorglich begleitet, finanzieren wir gemeinsam mit der katholischen Körperschaft und arbeiten dabei selbstverständlich mit anderen Religionsgemeinschaften zusammen.

Interviewserie vor den Wahlen

Bis zu den Wahlen veröffentlicht «reformiert.» Interviews mit allen Kandidatinnen und Kandidaten für den Zürcher Kirchenrat und das vollamtliche Kirchenratspräsidium. Kirchenratspräsident Michel Müller tritt nach zwölf Jahren im Amt nicht mehr an. Die Kräfteverhältnisse in der Synode sind ziemlich ausgeglichen. Die Liberale Fraktion ist mit 34 Mandaten die stärkste Kraft, dahinter folgt die Evangelisch-kirchliche Fraktion mit 32 Sitzen. Die Religiös-soziale Fraktion zählt 28 Mitglieder, mit 27 Sitzen auf den letzten Platz abgerutscht ist der Synodalverein. Die Synode wählt Kirchenrat und Präsidium am 21. November. 

Sie sind stolz auf Ihre Kirche: So lautet Ihr Wahlslogan. Gibt es Dinge, auf die Sie weniger stolz sind?

Ich frage mich, ob die Kirche in ihrem Engagement für die gesamte Gesellschaft noch genügend stark wahrgenommen wird. 

Nur das Image hat gelitten?

Vielleicht hat die Kirche tatsächlich nachgelassen in ihrer seelsorglichen Präsenz und in ihrem sozialen Engagement. Zuletzt haben sich die Landeskirche und die Kirchgemeinden mit Strukturfragen herumgeschlagen. Das war nötig, hat aber Kräfte gebunden und Spuren hinterlassen. Ich habe in der Stadt Zürich als Pfarrerin selbst erlebt, wie viel Energie die Strukturbereinigung gekostet hat. Wir müssen aufpassen, dass die Kirche nach aussen wirksam bleibt und die Bevölkerung etwas von ihr hat. 

Sie haben lange für die SP politisiert im Zürcher Stadtparlament und im Kantonsrat. Wie links darf die Kirche sein?

Das ist die falsche Frage. Das Kirchenratspräsidium ist ein integrierendes Amt. In der Politik ging es mir immer um die Sache. Der Präsident der SVP-Fraktion im Kantonsrat hat für meine Kandidatur als Kirchenratspräsidentin ein Testimonial geschrieben. Das muss man als Sozialdemokratin erst einmal schaffen. 

Dann lautet die richtige Frage wohl: Wie politisch darf Kirche sein?

Sie soll sich dort einmischen, wo sie über Kompetenz und Erfahrung verfügt. Da zählt zum Beispiel der Migrationsbereich dazu. Die Kirche ergreift für die Schwachen in der Gesellschaft Partei, für diejenigen, die am Rand stehen. In der Kirchenordnung steht, dass sie für die Würde des Menschen eintritt. Auch in ethischen und gesellschaftspolitischen Fragen soll sie sich zu Wort melden können. Wichtig ist, dass Positionsbezüge keine Alleingänge des Präsidiums sind, sondern vom Kirchenrat beschlossen werden. 

Sie werden immer zuerst den Kirchenrat fragen, bevor Sie ein Interview geben?

In zentralen Fragen würde ich sicher nicht vorpreschen. Meine Aufgabe wäre es, der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich eine Stimme zu geben. Selbstverständlich darf diese Stimme auch eine persönliche Färbung haben, doch die Argumentation muss sachlich, theologisch und redlich sein. Mit öffentlichen Auftritten im Namen des Kirchenrats habe ich viel Erfahrung. Die Positionen, die ich da vertreten habe, waren stets vom Gremium abgestützt. 

Welchen Führungsstil pflegen Sie?

Ich werde keine Chefin. 

Aber Präsidentin. 

Genau. Es geht um politische und strategische Führung. Die operative Personalführung hingegen obliegt dem Kirchenratsschreiber und den Verantwortlichen in den Gemeinden. Ich höre zu, hole die verschiedenen Positionen ab, um mir selbst eine Meinung zu bilden. Mich interessiert, wie Mitarbeitende, die sich schon lange mit einem Thema befassen, eine Frage einschätzen. Ich kommuniziere transparent und streite gerne um die Sache. 

Und wenn Sie unpopuläre Entscheide fällen müssen?

Dann ist es umso wichtiger, dass das Verfahren zur Entscheidfindung klar aufgebaut und nachvollziehbar ist. Manchmal geht einem Entscheid ein Seilziehen voran, Konzessionen werden gemacht. Ist ein Entscheid gefällt, gilt es ihn konsequent umzusetzen, damit darauf aufgebaut werden kann. Gerade bei schwierigen Entscheiden sind Verlässlichkeit und Transparenz unabdingbar.

Was sagen Sie jenen, die das Seilziehen verlieren?

Die Minderheit darf nicht vergessen gehen. Triumphgefühle sind immer fehl am Platz. Als Präsidentin wäre es mir wichtig, mit der Minderheit im Gespräch zu bleiben und ihre Anliegen nachvollziehen zu können. Ihre Bedenken sollen nicht dazu führen, dass ein Entscheid wieder umgestossen wird. Aber ich würde versuchen, die Minderheit mitzunehmen, indem ich ihre Anliegen ernst nehme. 

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