Warum kandidieren Sie als Kirchenpflegepräsident?
Michael Braunschweig: Wir sind an einem entscheidenden Punkt in der Kirchgemeinde Zürich. Wir haben neue Strukturen, die nun mit Leben gefüllt werden müssen. Das funktioniert nur mit neuen Personen. Deshalb finde ich es grossartig, dass auch Res Peter kandidiert.
Dass Andreas Hurter als Präsident der Übergangskirchenpflege kandidiert, finden Sie weniger grossartig?
Die Kandidatur hat mich sehr überrascht, sie ist atypisch für solche Prozesse. Als Projektleiter musste Andreas Hurter die Fusion durchsetzen. Viele Widerstände, die es noch immer gibt, hängen auch mit seiner Person zusammen. Als Projektleiter trägt er einen anderen Hut. Den wird er auch aufbehalten.
Die reformierte Kirche ist stolz auf das Priestertum aller Getauften. Nun kandidieren mit Ihnen und Res Peter zwei Theologen. Wissen es am Ende halt doch immer die Theologen besser?
Nein. Es braucht keinen studierten Theologen. Aber wenn jemand sagt, mit Theologie habe ich nichts am Hut, ich kümmere mich lieber um die Organisation, ist er am falschen Ort. Es braucht Personen, die beides mitbringen: Ein Verständnis für Organisationen und die Leidenschaft, die Herausforderungen aus theologischer Perspektive anzupacken. Die Kirchenpflege muss die Kirche als Kirche weiter entwickeln wollen und nicht als Verwaltungseinheit.
Die Expertise für Organisationsführung ist nicht so wichtig?
Doch, aber in einer kompetenten Geschäftsführung. Die Kirchenpflege ist eine Milizbehörde Sie gibt den strategischen Rahmen vor und muss die Geschäftsführung immer wieder herausfordern.
Ist eine 60-Prozent-Stelle in der Lohnklasse 19 noch ein Milizamt?
Genau diese Frage habe ich gestellt, als in der Zentralkirchenpflege das Entschädigungsreglement verabschiedet wurde.
Wie lautet Ihre Antwort?
Mit 60 Prozent ist es kein Milizamt mehr. Die Mitglieder der Kirchenpflege haben nur 20-Prozent-Pensen. Daraus ergibt sich ein Übergewicht des Präsidiums, das der reformierten Idee der partizipativen Zusammenarbeit widerspricht.
Eigentlich wollte die Fusion Profilgemeinden ermöglichen. Ausgerechnet Hirzenbach ist nun nicht dabei.
Ich bedaure sehr, dass es nicht gelungen ist, die Gemeinde mit ihrem frommen Profil zu integrieren. In meinem Kirchenkreis zeigt sich, dass einzelne Kirchenorte auch innerhalb der Stadtgemeinde profiliert auftreten können. Viele der Freiwilligen im Offenen St. Jakob beispielsweise interessieren sich nicht dafür, was auf Kreisebene läuft. Zum Teil sind sie nicht einmal Mitglied der Kirche. Und das ist in Ordnung so. Die Entwicklung der Kirche muss noch viel stärker in Richtung spezifischer Profile gehen, die sich an den Menschen und ihren Bedürfnissen und Lebenslagen orientieren.
Braucht es Korrekturen an der jetzigen Struktur?
Wir sind an einem heiklen Punkt und müssen aufpassen, dass die Strukturen das kirchliche Leben vor Ort ermöglichen, statt es zu lähmen.
Passiert das schon?
Teilweise. Ich höre von Mitarbeitenden: «Wir haben nur noch Sitzungen, und niemand weiss wofür.» Das sind Alarmsignale. Es gibt Krisensymptome, die Zahl der Kündigungen steigt. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zuzuhören und wo nötig Korrekturen vorzunehmen, ist eine eminent wichtige Aufgabe der Kirchenpflege.
Welchen Rucksack bringen Sie mit für das angestrebte Amt?
Ich weiss genau, was es bedeutet, in einem urbanen Umfeld eine Kirchgemeinde aufzubauen. Als wir in der Kirchgemeinde Industrie vor fünf Jahren den Neustart wagten, begannen wir quasi bei Null. Darüber hinaus bin ich sehr gut vernetzt in der Zürcher Kirche, in Bern und im Kirchenbund.
Was wollen Sie erreichen?
Das Diktum ist: Die Kirche wird ärmer, älter und kleiner. Wenn das die Selbstwahrnehmung ist, will niemand dazugehören. Deshalb müssen wir diesen Trend drehen.
Reicher, jünger und grösser wird die Kirche kaum noch.
Wer weiss. Aber sie kann sicher fokussierter, aktiver und damit auch wieder attraktiver werden. Die jetzige Situation bietet die Chancen dazu. Nur so kann die Kirche im grossen Konzert von wohltägigen Organisationen und Freizeitangeboten mitspielen. Die Kirche ist keine Selbstverständlichkeit mehr.
Was macht sie aus?
Ihre Botschaft, dass ein Leben in Liebe und Gerechtigkeit eine reale Möglichkeit ist. Die Individualisierung der Gesellschaft ist etwas Tolles. Doch sie hat eine Kehrseite, sie führt zur Vereinsamung vieler Menschen. In der Kirche sollen sich Menschen wieder zu Hause fühlen. Kirche ist kein Selbstzweck, sondern aktives Engagement für andere: Es gab noch nie so viele Flüchtlinge weltweit, wir wissen nicht, wie viele Sans Papier in der Schweiz leben. Wer, wenn nicht Kirche, die sich auf das Evangelium beruft, soll sich für diese Menschen einsetzen?
Das klingt jetzt nicht wirklich neu.
Natürlich nicht. Das haben die Christen vor 2000 Jahre schon gesagt. Aber ist das die Botschaft, die die Menschen heute von der Kirche hören? Oder hören sie uns immer über Strukturen, Infrastruktur und Geld reden? Wir haben einen Auftrag. Dieser Auftrag steht im Zentrum, er bleibt, selbst wenn die Kirche weniger Mitglieder hat. Und an diesem Auftrag muss sich auch die Struktur ausrichten.