Spezial 26. Mai 2021, von Yvonne Witschi-Minder

Wenn in der digitalen Kirche Schlachten ausgetragen werden

Serie Kirche digital

Auch raue Gefechte werden auf Twitter und Instagram ausgetragen – selbst im christlichen Umfeld. Yvonne Witschi zeigt im neuen Beitrag, wie Diskussionen (sich) verlaufen können.

Entdecken Sie Neues beim Blog «Kirche digital»

Im Internet und in den sozialen Medien sind zahllose spannende Perlen von Kirche «in Digital» zu entdecken. Die Pfarrerin Yvonne Witschi aus Thun macht diese Erfahrung ständig aufs Neue. Nun stellt sie ihre Entdeckungen in der Serie «Kirche digital» monatlich vor.

Ihre Profile auf Instagram und Twitter:

https://www.instagram.com/witschiyvonne/

https://twitter.com/YvonneWitschi

Schlachten in der Kirche? Also so richtige? Das gibt es doch nicht! Ja, das könnte man meinen, wenn man an ein friedliches und respektvolles Miteinander denkt. Wozu sonst haben wir Christinnen und Christen das Doppelgebot der Liebe mit auf den Weg bekommen? «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft. Das zweite ist dieses: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Höher als diese beiden steht kein anderes Gebot.» Markus 12,30f.

Ganz so harmonisch geht es aber dann doch nicht zu und her. Weder in der analogen noch in der digitalen Kirche. Gut, das Wort «Schlacht» ist bewusst etwas überspitzt gewählt. Es geht tatsächlich nicht um bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Truppen. Wobei – wenn Worte andere Menschen wie Waffen verletzen, sind wir doch ziemlich nahe an diesem Begriff dran …

Nach einem Jahr Unterwegssein in der digitalen Kirche muss ich zugeben, dass ich teilweise erschrecke, wie kalt, rau und hasserfüllt manche Konflikte auf Twitter und Instagram sein können. Nichtsdestotrotz lohnt sich meiner Meinung nach ein genaues Hinsehen und Hinhören. Denn gerade durch solche «Schlachten» konnte ich bereits einiges lernen, mich für gewisse Themen sensibilisieren und neue Blickwinkel und Standpunkte entdecken.

«Eine Frau kann nicht Pfarrerin sein»

Folgt man auf Instagram einigen grossen Accounts von (angehenden) Pfarrerinnen, taucht eine Thematik immer wieder auf: Sexismus.

Ihnen wird fast täglich von irgendjemandem (meist Männern) mitgeteilt, dass sie im Pfarramt als Frauen nichts verloren haben. Gerne wird dann in entsprechenden Kommentaren zitiert:

Frauen sollen in der Gemeindeversammlung schweigen. Ihnen ist es nicht erlaubt, dort zu sprechen. Vielmehr sollen sie sich unterordnen, wie es das Gesetz vorschreibt. Wenn sie etwas genauer wissen wollen, sollen sie zu Hause ihre Männer fragen. Denn für eine Frau ist es eine Schande, in der Gemeindeversammlung öffentlich zu sprechen.
1. Korinther 14,34f.

Auch die Tatsache, dass Adam vor Eva geschaffen wurde, wird häufig erwähnt, wenn Pfarrerinnen ihre Kompetenz abgesprochen wird. Was also wie Argumentationen aus längst vergangenen Zeiten klingt, ist für viele Frauen bittere Realität. Und das bei weitem nicht nur im digitalen Leben.

Auch wenn mir persönlich noch nie eine Bibelstelle «um die Ohren gehauen» wurde, um mir mitzuteilen, dass ich mit meinem Beruf gegen die göttliche Ordnung verstosse, habe ich im Pfarramt selbst auch Sexismus erlebt. Von anzüglichen Bemerkungen im Konfunterricht über die Beurteilung meiner Kleiderwahl bis hin zur Diskussion rund um meine Koch- und Backkünste war einiges dabei. Auch als mir ein männlicher Kollege erklären wollte, wie man(n) das Pfarramt richtig führt, erlebte ich, wie übergriffig manche trotz gelebter Nächstenliebe sein können.

Youtube-Video von der deutschen Pfarrerin Theresa Brückner zum Thema:

Ich bin meinen Kolleginnen sehr dankbar, dass sie über Twitter und Instagram immer wieder auf anzügliche Bemerkungen, zweideutige Anspielungen, Fotos von «Unter-der-Gürtellinie» und andere sexistische Übergriffe hinweisen und es nicht aus Scham oder Angst verschweigen. Nur so kann sich etwas ändern. Denn was die Gleichstellung aller Geschlechter angeht, gibt es analog und digital noch einiges aufzuarbeiten und nachzuholen.

Nun ist es aber so, dass es in der digitalen Kirche eine grosse Gruppe von Menschen gibt, die nicht nur in Bezug auf Pfarrerinnen ein veraltetes Frauenbild propagieren. Sieht man sich etwas auf Instagram um, findet man auch schnell grosse Accounts mit mehreren Tausend Followern, die von der Gleichwertigkeit aber nicht Gleichartigkeit von Mann und Frau reden und ebenfalls betonen, dass sich die Frau dem Mann unterordnen soll. Der Account «liebezurbibel», der im Übrigen von einer Frau betrieben wird, hat aufgrund eines solchen Posts letzten Dezember grosses Aufsehen erregt.

Instagram-Link zum Beitrag: L I E B E Z U R B I B E L (@liebezurbibel)

Während der Beitrag von vielen Evangelikalen gefeiert wurde, reagierten liberale Theologinnen und Pfarrerinnen irritiert und versuchten das Thema «Christ*in und Feminist*in sein», um das es im besagten Beitrag geht, breiter zu diskutieren. Die Accountinhaber begann anschliessend mit dem Blockieren  von kritischen Gegenstimmen und schaltete letztlich die Kommentarfunktion unter ihrem Beitrag aus, so dass niemand mehr darauf reagieren konnte.

Erstaunlicherweise wird in einem aktuellen Beitrag von «liebezurbibel» ein ganz anderer Ton angeschlagen: «Lass dich als Frau nicht nur auf den Küchen- und Dekodienst reduzieren.» Um diese Aussage zu untermauern, werden verschiedene Frauen aus der Bibel angeführt, die einiges gewagt und geleistet haben. Auch Dinge, die gemäss der Argumentation vom Dezember nicht der Art der Frau entsprechen. Wie das genau zusammenpasst, erschliesst sich mir nicht. Muss es ja aber auch nicht...

«Lies doch mal die Bibel!!!»

Es gibt ein Argument, das in den Kommentaren auf Instagram sehr häufig verwendet wird. Wenn es auftaucht, ist klar, dass es bald sehr unfreundlich zu und her geht. Denn die «Schützengräben», die es aufreist, können nicht überwunden werden. Die Sätze, die dieses Argument enthalten, tönen alle ähnlich:

«Wenn du die Bibel lesen würdest, wüsstest du das.»

«Deine Haltung zeigt, dass du die Bibel nicht gelesen hast.»

«Ein Blick in die Bibel lohnt sich.»

«Lies doch mal die Bibel!!!»

So, wie diese vier Aussagen hier stehen, wirken sie eigentlich recht harmlos. Nicht aber, wenn sie als Reaktion auf einen Post in den Sozialen Medien erscheinen. Denn es handelt sich nie um einen freundlichen Hinweis, wieder einmal in der Bibel zu lesen, weil man dazu selten Zeit findet. Nein, es geht darum, mit diesem Argument jemandem den Glauben abzusprechen und sich selbst als Person mit dem «richtigen Glauben» zu profilieren.

Meist tauchen solche Kommentare auf, wenn es um Themen wie LGBTQ, Homosexualität in der Bibel oder Sex vor der Ehe geht. Wer sich für Queers einsetzt und betont, dass auch sie von Gott geliebt sind und ihre sexuelle Orientierung keine Sünde, sondern völlig okay ist, kann damit rechnen, dass die obigen Sätze nicht lange auf sich warten lassen.

Ebenso ergeht es all jenen, die auf eine voreheliche Sexualität verweisen, die auf gegenseitiger Achtung und Respekt beruht. Bei diesen Themen prallen nicht nur Welten, sondern auch Fronten aufeinander. Deshalb ist ein rücksichtsvoller Austausch oder ein interessiertes Nachfragen auf Augenhöhe meist nicht möglich.

Aber – und das muss ich an dieser Stelle unbedingt betonen – es geht glücklicherweise auch anders. Es gibt Leute, die kein Geheimnis um ihre persönliche Haltung machen, sich aber gerne mit andersdenkenden und andersglaubenden Menschen unterhalten, sich selbst hinterfragen und auch einmal um Entschuldigung bitten, wenn sie jemandem zu nahegetreten sind. Bei solchen gelungenen Diskussionen fordert man sich aber auch nicht gegenseitig auf, die Bibel zu lesen...

Instagram-Video vom deutschen Pfarrer Nico Ballmann zum Thema:
Nico Ballmann auf Instagram: «Ich war lange sehr freundlich und habe mir Zeit genommen, um auch mit Menschen zu diskutieren, die andere aufgrund ihrer Sexualität oder…»

«Du widersprichst dir damit selbst»

Wer nun meint, dass sich gewisse «Schlachten» nur zwischen Frauen und Männern oder evangelikalen und liberalen Lagern abspielen, täuscht sich gewaltig. Auch innerhalb einer eher homogenen «Kirchen-Bubble», in der sich alle gegenseitig folgen, kann es zu Meinungsverschiedenheiten und gegenseitigem Blockieren kommen.

Das jüngste Beispiel zeigt ein Post vom deutschen Pfarrer Nico Ballmann, der die Diskussionskultur der digitalen Kirche kritisierte. Er ist schon länger dabei und findet, dass sich seither einiges zum Schlechteren verändert hat.

Seine Erkenntnis zeigt er anhand verschiedener Beispiele auf, die selbst sehr emotional beladen sind und zuvor entsprechend hitzig diskutiert wurden. Von lobendem Beifall bis hin zu totalem Unverständnis gegenüber seinen Ausführungen war so ziemlich alles dabei.

Viele in der «Kirchen-Bubble» meldeten sich zu Wort, es gab ein Insta-Live-Gespräch, verschiedene Stories etc. Dabei fand ein regelrechter Schlagabtausch an Argumenten statt, der teilweise auf der Widersprüchlichkeit einzelner Aussagen aufbaute. Und obwohl man sich innerhalb einer Bubble sonst sehr schätzt und gegenseitig unterstützt, kann es dann doch zum Entfolgen oder gar zum gegenseitigen Blockieren kommen.

Rückblickend lässt sich sagen, dass sich der ganze Austausch auf sehr hohem theologischen Niveau bewegte, so dass ich mich an die kontroversen Diskussionen während meines Studiums erinnerte, die doch im einen oder anderen Seminar aufkamen …

Instagram-Post «Wer nicht für uns ist, ist gegen uns» von Nico Ballmann: Nico Ballmann (@einschpunk)

Instagram-Live-Gespräch zum Thema «Diskussionskultur in der digitalen Kirche»: Veronika Rieger (@riegeros)

Kleiner Hinweis zum Schluss

Meine Beispiele sogenannter «Schlachten» innerhalb der digitalen Kirche sind alle aus Deutschland. Warum? Die digitale Kirche ist dort breiter aufgestellt, weshalb es auch vermehrt zu Auseinandersetzungen kommt. In der Schweiz sind wir noch ein überschaubares Grüppchen, das glücklicherweise auch bei unterschiedlichen Ansichten sehr wohlwollend miteinander umgeht. :-)

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