Schwerpunkt 29. Mai 2019, von Christa Amstutz Gafner

«Im digitalen Raum ist Platz für Debatten»

Digitale Kirche

Für die Theologin Sabrina Müller ist es Aufgabe aller Pfarrleute, präsent zu sein, wo theologische Diskussionen statt­finden. Also auch in den sozialen Medien.

Sind Sie meistens online, wenn Sie beten?

Sabrina Müller: Nein, das nicht. Aber ich bin häufig digital unterwegs. Ab und zu nehme ich an #twomplet, dem Abendgebet auf Twitter, teil oder beteilige mich in Netzwerken wie der ökumenischen Bewegung Kirchehoch2. Sie entstand spontan, wird jetzt aber von Kirchen in Deutschland unterstützt. Vor allem aber pflege ich viele persönliche Kon­­takte via soziale Medien. Dieser Austausch kann genauso spirituell oder religiös sein wie bei Begegnun­gen in der Kirchgemeinde.

Was ist auf Facebook und Twitter anders als beim Kirchenkaffee?

Ein Vorteil ist sicher, dass man an keine Zeit und keinen Ort gebunden ist. Wer zum Beispiel in einer Trauergruppe auf Facebook ist und mitten in der Nacht eine Krise hat, kann fast sicher sein, dass irgend­jemand antwortet. Zudem ist es leich­­ter das passende Umfeld zu finden, um sich mit Menschen auszutauschen, die ähnliche Interessen und Fragen haben. So bilden sich neue religiöse Räume über den physi­schen Kirchenraum hinaus.

Und welche Lebenswelten finden typischerweise in diesen digitalen Räumen zusammen?

Das ist natürlich sehr unterschiedlich. Oft machen in den Gruppen aber Menschen mit, die sich der Kirche zwar noch in irgendeiner Form verbunden fühlen, aber das Gefühl haben, dass sie in keine Ortsgemein­de passen. Einer der Leitbegriffe ist #thegiftofnotfittingin. Unter diesem Hashtag tauschen sich Gleichge­sinnte in den sozialen Medien über Lebens- und Glaubensfragen sowie über neue Formen von Kirche und christlicher Gemeinschaft aus. Auch die Hashtags #digitalekirche, #digitalwonderer oder #wewonder sind beliebt.

Haben diese digitalen Wunderer oder Wanderer etwas gemeinsam? 

Sie sind auf der Suche nach gemeinsam gelebter Spiritualität. Sie haben lieber offene Fragen als schnelle Ant­worten. Theologie interessiert sie, konfessionelle Unterschiede oder Mitgliederzahlen nicht.

Wenn man sich nicht physisch trifft, ist es doch schwierig, ein Ge­meinschaftsgefühl zu entwickeln.

Aus den zunächst digitalen Kontakten ergeben sich durchaus auch physische Treffen. Die Trennung in eine reale, analoge und eine virtuelle, digitale Welt lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten. Gerade für Digital Natives, die mit dem Internet aufgewachsen sind, gehört beides zusammen. Mal sind sie online, dann wieder offline unterwegs. Die Grenzen sind fliessend.

Aufsehen erregte der Segensroboter BlessU-2 an der Weltausstellung Reformation in Wittenberg. Wie funktioniert er?

Ähnlich wie bei einem Bancomaten konnten Besucher dort wählen, in welcher Sprache ihnen ein Segen zugesprochen werden soll und ob dieser eher eine Ermutigung oder Erneuerung beinhalten sollte. Das daraufhin vorgelesene Segenswort konnte als Papierausdruck mitge­nom­men werden.

Die meisten Leute werden das nur aus Spass gemacht haben.

Das mag sein. Kürzlich aber wurden die Feedbacks der Menschen, die sich von BlessU-2 einen Segen haben zusprechen lassen, ausgewer­tet, und sie zeigen: Nicht wenige fühlten sich durchaus gesegnet.

Online wird auch häufig füreinander gebetet, oder?

Ja, auf Facebook werden Anliegen gepostet, auf Twitter sind diese zum Beispiel unter dem Hashtag #prayfor zu finden, oder dann gibt es Apps wie zum Beispiel «Churchhome global». Man kann dort ein Anliegen deponieren, und wenn jemand für einen betet, steigen auf dem Smartphone Herzli auf. Natürlich ergeben sich da auch kritische Fragen. Dennoch sind auch solche Erfahrungen gelebte Religion.

Dabei beklagen sich gerade in der reformierten Kirche viele Menschen über zu wenig sinnliche Erlebnisse. Segensgottesdienste zum Beispiel sind beliebt.

Die Segensgottesdienste mit der Hand auf der Schulter und einem persön­lichen Wort finden vielleicht zweimal im Jahr statt. Das eine schliesst das andere nicht aus. Sowieso sollte man Ortsgemeinden und digitale Netzwerkgemeinden nicht gegeneinander ausspielen.

Dennoch: Ist die Kirchgemeinde schon fast ein Auslaufmodell und die online-Gemeinde die Zukunft?

Für die Angebote der Ortskirchen ist nach wie vor ein Bedarf da. Das Digitale funktioniert einfach komplett anders. Vieles entsteht durch Selbstorganisation. Um dort als Kirche dabei zu bleiben, muss der Auftritt in den sozialen Medien Teil der Aufgaben im Pfarramt werden.

Inwiefern entsteht Theologie in die­sen Netzwerken?

Damit religiöse Erfahrungen, Glauben und Spiritualität zur Theologie werden, braucht es einen öffentlichen und reflexiven Diskurs. Beides ist im digitalen Raum möglich, und viele spirituell Suchende pflegen und schätzen genau diese Diskussionen, die online mehr Platz ha­ben als in vielen Ortsgemeinden.

Was kann die Kirche vom digitalen Kirchenraum lernen?

Ganz klar Partizipation und Dialog. Menschen, die in digitalen Netzwerken unterwegs sind, hören ungern einfach nur zu, sie wollen ihre Meinung teilen. Je jünger sie sind, desto mehr gilt: Bilder sind wichtig, Text allein funktioniert nicht.

Wozu braucht es bei so viel Parti­zipation überhaupt noch Pfarrerinnen und Pfarrer? 

Für mich gehört es selbstverständlich zu den Aufgaben von Pfarrper­sonen, in theologische Diskussio­nen einzusteigen, dort wo sie stattfinden. Wenn das immer häufiger in den sozialen Medien ist, sollte man dort dabei sein. Die Hauptaufgabe von Pfarrpersonen ist für mich, das Priestertum aller Glaubenden zu fördern, andere darin zu unterstützen, religiös sprach- und ausdrucksfähig zu werden. 

Reicht es, einfach nur dabei sein? Ist es nicht wichtig zu wissen, worauf man sich im Glauben beruft?

Darum bin ich auch ein Fan von Bekenntnissen. Aber man muss ak­zeptieren, dass die eigene Meinung eine unter vielen ist. Ich bin überzeugt: Kirchliche Innovation entsteht immer dort, wo Traditionelles auf das jeweilige Umfeld trifft.

Sehen Sie digitale religiöse Bewegungen nur positiv?

Nein, da bleibt vieles zu hinterfragen. Ich habe Verständnis, wenn man sich mit digitalen Entwicklun­gen schwertut. Es ändert aber nichts daran, dass sie eine Realität sind. Statt zum Beispiel Jugendlichen zu predigen, sich nicht zu oft auf sozialen Medien zu bewegen, sollte man ihnen die nötigen sozialen und ethischen Kompetenzen im Umgang damit vermitteln. Denn, um am christlichen Menschenbild anzuknüpfen, sie sind immer schon geliebt und wertvoll, unabhängig der Anzahl von Likes und Follower.

Forschung und Praxis im digitalen Zeitalter

Die Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigen Gesellschaft und Forschung zunehmend. Zur Digitalisierung im Bereich Religion wurde aber bisher kaum intensiv geforscht. Mit «Digital Religion(s)» entsteht nun an der Theologischen Fakultät der Uni­versität Zürich ein interdisziplinärer For­schungs­verbund unter der Leitung des Praktischen Theologen Thomas Schlag (Zentrum für Kirchenentwicklung) und des Ethikers Markus Huppenbauer (Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik).

Beteiligt sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Disziplinen wie Religions- und Islamwissenschaften, Medienwissenschaften, Sozio­logie, Psychologie, Ökonomie, Robotik, Recht und andere mehr. Es sollen sich Forschende verschiedener Univer­­sitäten im In- und Ausland vernetzen.

Geforscht wird in drei grossen Themenkreisen. Im ersten Bereich wird die religiöse digitale Praxis von Individuen untersucht, etwa in Online-Trauer­­foren, in der Seelsorge und in digi­talen Gebetsritualen. Welche neuen Glaubensformen bringt die digitale Vielfalt, Reichweite und Schnelligkeit mit sich? Und was bewirken die freie Meinungsäusserung und das kreative religiöse Experimentieren?

Im zweiten Bereich geht es um die digitale Praxis von religiösen Gemeinschaften. Wie etwa stellen Kirchen ihre Überzeugungen im Netz dar, und wie verändert sich dadurch die «Kommunikation des Evangeliums»? Dabei wird auch den Auswirkungen auf die traditionellen professionellen Autoritäten nachgegangen und Fragen nach der Definitionshoheit über Religion und Glaube gestellt.

Ein dritter Forschungsbereich befasst sich mit theologischen und ethischen Fragen. Wird das Internet durch seine Allpräsenz und Allwissenheit selbst zum neuen Gott? Wie ist damit umzugehen, wenn von «Cybergrace» statt von Rechtfertigung gesprochen wird und Segensroboter gebaut werden? Und gibt es angesichts der digitalen Erinnerungsspeicher ein Menschenrecht auf Vergebung?

Digitale Präsenz

Nicht nur in der Forschung auch in der Praxis ist in Sachen Digitalisierung in Zürich einiges in Bewegung. Mit dem Projekt «RefLab», das im nächsten Jahr startet, lanciert die reformierte Landeskirche des Kantons Zürich ein digitales «Laboratorium mit Netzwerkcharakter». Ziel ist, eine Plattform aufzubauen, auf der auch eher kirchenferne Menschen über aktuelle theo­logische, ethische und gesellschaftspolitische Fragen miteinander ins Gespräch kommen. Das Label will für «offenes Fragen, neugieriges Zuhören und miteinander Lernen» stehen. Die Themen sollen im Austausch entstehen. Um jüngere, kulturaffine und kosmopolitische Menschen anzusprechen, wird via Social Media und Podcasts kommuniziert.

Angesiedelt ist das Projekt in der Abteilung Lebenswelten der Zürcher Kirche. Es ersetzt den bisherigen Bereich Bildung und Kultur. Dazu wird es Veranstaltungen geben, die besucht werden können. Die Anlässe werden aufgezeichnet und auf digitalen Plattformen geteilt.

Christa Amstutz

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